Erinnerung an Dr. Charlotte
Klein
von Dieter Kittlauß
Charlotte Klein - Eine
vergessene Synagoge
In den letzten Jahren hat der West-Berliner Senat ehemalige
jüdische Bürger eingeladen, auf seine Kosten eine Woche in Berlin zu
verbringen. Mit einigen Ängsten entschloß ich mich im vergangenen
Juli (1983) zu einem Besuch - ich kenne dort niemanden mehr, weder Juden noch
Christen. Es war eine ziemlich erschütternde Erfahrung. Ich erlitt den
verspäteten Schock des Verlustes und der Verlassenheit jener Jahre, als
ich mit meinen Eltern, die streng orthodoxe Juden waren, und meinem Bruder dort
lebte. Unser Haus steht noch, aber es wurde mir nicht gestattet, unsere alte
Wohnung aufzusuchen. Dann, wie in einem Traum, ging ich den altvertrauten Weg
zu unserer Synagoge. In einem zweibändigen Werk über Berliner
Synagogen hatte ich sie zu meiner Verwunderung nicht erwähnt gefunden,
doch sie war noch da.
Ich trat durch den Eingang, der an zwei Häusern vorbei
über einen Hof zu einem zweiten Hof führte, wo die Synagoge sich
befunden hatte. Zu meiner großen Freude sah ich, daß dieser Hof,
durch den man zu ihrem Eingangstor gelangte, in einen lieblichen Garten mit
Blumen und Sträuchern umgewandelt worden war - jemand hatte ihn liebevoll
gepflegt, als ob er gewußt hätte, daß dies einst der Vorhof zu
einer sehr geliebten Stätte des Gebetes und des Gottesdienstes gewesen
war. Diese Synagoge - in der Tradition eines polnischen "Stiebl" - wurde
hauptsächlich von Juden des Mittelstandes, die ursprünglich aus
Osteuropa stammten, besucht. Die Wände zeigten Spuren der Zerstörung
aus dem Krieg. Es wurde mir berichtet, daß die Frontlinie der russischen
Truppen in unmittelbarer Nähe verlaufen war, und man konnte deutlich viele
Einschläge von Geschossen erkennen. Dank der Bemühungen eines sehr
verständnisvollen Mitglieds der Stadtverwaltung konnten wir den jetzigen
Hausherrn der alten Synagoge treffen. Er ist ein bekannter Produzent von
pädagogischen Theaterstücken, die er hier in der ehemaligen Synagoge
vor drogen- und alkoholgefährdeten Jugendlichen aufführt. Welch gute
Nutzung unseres alten Gebetshauses! Er wußte, daß es einmal eine
Synagoge gewesen war, und er behandelte das Haus fast mit Ehrfurcht. Er
erinnerte mich sogar an etwas, das ich beinahe vergessen hatte: Das große
Tor wurde nur ein einziges Mal im Jahr geöffnet, während der
gewöhnlich benutzte Eingang sich in einem schmalen, dunklen Korridor
befand. Und wie recht er hatte! Alle Erinnerungen kamen zu mir zurück:
natürlich, wir hatten das Haupttor nur am Laubhüttenfest
geöffnet, an Sukkot, wenn die Sukka gegenüber diesem Eingangstor der
Synagoge errichtet wurde, so daß die Leute sofort nach dem Gottesdienst
zum Kiddusch und zu einer Mahlzeit hineingehen konnten. Als kleines
Mädchen hatte ich oft unser nicht-jüdisches Hausmädchen
begleitet, wenn sie das Mittag- und Abendessen für meinen Vater dorthin
brachte, während der sieben Tage des Laubhüttenfestes.
Als ich nun die dämmrige Synagoge selbst betrat,- sie ist
jetzt dort, wo früher die Frauengalerie gewesen war, mit einem Klavier,
einer kleinen Bar, Stühlen und mit einer neuen Decke ausgestattet, - brach
ich plötzlich in Tränen aus: die ganze Vergangenheit stürzte auf
mich ein. Und wir alle waren nicht mehr da - alle waren verschwunden!
Vielleicht bin ich die einzige, die übriggeblieben ist, um unserer alten
Synagoge zu gedenken und ihr Verschwinden zu betrauern?
Doch die Traurigkeit wurde gelindert durch den Trost, daß
solch guten Leute sie nun benutzten. Sie zeigten so viel Mitgefühl und
Verständnis für meine Trauer. Und schließlich, da ist jener
wundervoll blühende kleine Garten an diesem Ort, wo wir als junge Menschen
damals zu stehen und zu warten pflegten, während unsere Eltern drinnen das
"Maskir" sprachen, das Gedenkgebet für die Verstorbenen. Es schien mir,
als ob dieser Garten eine Gedenkstätte geworden wäre für jene,
die einst so inbrünstig hier gebetet hatten - mit Seufzern und Tränen
an "Yom Kippur", mit Lachen und Liedern der Freude an "Simchat Tora", dem
letzten Tag des Laubhüttenfestes.
Charlotte Klein
Worterläuterungen: |
Stiebl |
- |
Stübchen |
Sukkot |
- |
Laubhüttenfest |
Sukka |
- |
Laubhütte |
Kiddusch |
- |
Festtagsegen über Wein |
Maskir |
- |
Gebet für die Verstorbenen |
Yom Kippur |
- |
Versöhnungstag |
Simchat Thora |
- |
Fest der Thora-Freude |
Diesen Text erhielt H. Roos als Geschenk von
Charlotte Klein. Er wurde in der Dokumentation erstmals in Deutsch
veröffentlicht. Das Original ist in englischer Sprache geschrieben.
Übersetzt von: Catherine Heim-Sheridan/Heimgard
Roos
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