Erinnerung an Dr. Charlotte Klein

von Dieter Kittlauß



Charlotte Klein - Das jüdisch-christliche Gespräch - einst und jetzt

Seit fast zweitausend Jahren spricht die Kirche zu den Juden; seit wenigen Jahren versucht sie zögernd und verlegen, mit ihnen ein Gespräch aufzunehmen. Durch die Jahrhunderte wandte sie sich an sie mit nur dem einen Ziel im Auge: den Juden zum Christentum zu bekehren. Es blieb dem Christen unverständlich, daß der Jude nicht einsehen wollte, daß der Messias schon gekommen war und daß er ihn, trotz aller Prophetenworte aus seinen eigenen heiligen Büchern, trotz der Welterfolge der christlichen Botschaft, nicht anerkennen wollte.

Seit den Anfängen der Verkündigung des Evangeliums an die Heiden hatten die Missionare sich mit der auf der Hand liegenden Frage auseinanderzusetzen, warum sein eigenes Volk Jesus nicht als Messias aufgenommen hatte. Sie hatten die Antwort bereit: es war ein halsstarriges Volk, das sich schon immer dem Gotteswort widersetzt hatte; endlich hatten sie das Maß ihrer Väter erfüllt, hatten ihren Erlöser verkannt und waren deshalb verstoßen worden. Als Beweis konnten sie allgemein bekannte Tatsachen anführen: der Tempel war im Jahre 70 von Römern zerstört, das jüdische Volk in die Diaspora zerstreut worden. Sie lebten fast überall gerade noch geduldet oder verfolgt - ein abschreckendes Beispiel für alle Ungläubigen und Abtrünnigen.

Zu diesen Behauptungen, die einen Kern historischer Wahrheit enthalten - z.B. die Tempelzerstörung durch Titus während des heroischen Aufstands des kleinen Volkes gegen das römische Imperium - ließe sich viel sagen. Das, was dem Christen als blinde Hartnäckigkeit erscheint, gilt den Juden als Treue zum Bunde der Väter, der ihnen nie aufgekündigt wurde. Daß sie, im Laufe der Jahrhunderte, Jesus immer weniger als Heiland erkennen konnten, ist kaum Schuld zu nennen, denn das durch die Propheten verkündete Zeitalter des Friedens, der Befreiung der Menschen von Selbstsucht, Neid, Elend und Sünde in jeder Form konnten Juden in der Tat durchaus nicht entdecken. Denn gerade im Namen des Kreuzes wurden sie verfolgt, wurde ihnen die Ausübung ihrer Religion, ihre Berufe, ihre Existenz selbst, fast unmöglich gemacht. Endlich erlangten sie, nicht durch christliche Nächstenliebe, sondern als Folge der antiklerikalen Französischen Revolution, eine gewisse Gleichberechtigung. Wie oberflächlich aber dieser Prozeß der Integration in die abendländische Gesellschaft war, wurde bereits Ende des vergangenen Jahrhunderts von Theodor Herzl, dem Gründer des Zionismus, erkannt. Wie tiefe Wurzeln das fast zweitausend Jahre lang gegen Juden und Judentum gepredigte Vorurteil gefaßt hatte, ist allen durch die Ereignisse im nationalsozialistischen Staat bekannt.

So lange das Judentum nur als Wegbereiter der Kirche angesehen wurde, konnte es zu keinem Gespräch kommen. Was hätte denn der Jude dem Christen noch zu sagen gehabt? War nicht seine Existenz selbst ein Anachronismus, der logischerweise mit der Selbstaufgabe ihrer Identität durch Konversion oder Assimilation enden sollte?

Erst in den letzten 25 Jahren, durch zwei historische Ereignisse aufgerüttelt -Auschwitz und die Gründung des Staates Israel -, hat sich die westliche Welt zu einer Überprüfung ihrer grundsätzlich Haltung dem Juden und seinem Glauben gegenüber veranlaßt gesehen. Hinzu kommt eine bessere Kenntnis des Judentums und seiner ihm eigenen Werte. Die Jahrhunderte vor und nach Christus waren für das jüdische Volk kein Zeitalter der Stagnation oder der Dekadenz; sie waren, im Gegenteil, eine Epoche des Aufbaus und der inneren Erneuerung. Die Zerstörung des Tempels war nicht ein tragisches Ende, sondern geradezu der Anstoß zu einer fruchtbaren Weiterentwicklung, die im organischen Zusammenhang mit dem Glauben des biblischen Israels steht. Dies wird noch immer von vielen Theologen und Exegeten weithin übersehen. Die Synagoge mit dem dazugehörenden Lehrhaus bestand lange vor dem Ende des Tempelkultes. Sie war der Sammelpunkt der jüdischen Gemeinden, wo immer sie existierten.

Denn die sogenannte Diaspora - die jüdischen Gemeindebildungen außerhalb Palästinas - begann durchaus nicht als Strafgericht im Jahre 70, sondern geht zumindest auf das sechste vorchristliche Jahrhundert zurück. Die Mehrzahl der Juden zur Zeit Christi lebte seit langem in festgefügten, oft privilegierten selbstverwalteten Gemeinden, weit über die Grenzen des Römischen Reiches hinaus.

Was hat nun dies alles mit dem jüdisch-christlichen Gespräch zu tun? Zuerst einmat dies: in einem echten Dialog hat jeder der Partner etwas beizutragen. Solange man aber das Judentum als ein verkalktes Fossil der Vergangenheit betrachtete, dessen wertvollsten Besitz, die Schrift, die Christen übernommen hatten und als überholten "alten" Bund auslegten, so lange konnte es keinen Dialog, sondern nur einen Monolog geben. Dieser christliche Monolog ist gründlich nachgewiesen.

Es gibt die vielen Traktate und Predigten der Kirchenväter "Gegen die Juden", die bereits im 2. Jahrhundert mit Justinus Martyr anfangen und in den mittelalterlichen Streitgesprächen zwischen christlichen Theologen und Rabbinern weitergehen. Es handelt sich hier immer darum, den Juden mit gewissen, heute exegetisch recht fragwürdigen Bibelauslegungen zu beweisen, daß der Messias gekommen und daß nur ihr böser Wille schuld an ihrem Unglauben sei. Gleichzeitig wurden ganze jüdische Gemeinden unter Druck gesetzt und im Falle des Widerstandes gegen die christliche Wahrheit mit Landesverweisung oder Schlimmerem bedroht. Damals konnte von einem in Freiheit und Ehrlichkeit geführten Gespräch keine Rede sein. Sein Ziel war, dem Juden das Evangelium zu bringen, nicht aber von ihm, als gleichberechtigter Partner, seine Interpretation der Bibel, seine Gründe für das Beharren im Glauben der Väter geduldig mitanzuhören oder gar zu respektieren.

Das letzte dieser Art Streitgespräche, das zu seiner Zeit viel Staub aufwirbelte, fand zur Zeit des 1. Vatikanums statt. Zwei Priester, jüdischen Ursprungs, die Abbes Lemann in Frankreich, begannen mit den besten Absichten eine Pamphlet- und Zeitungskampagne, die von der jüdischen Presse aufgegriffen wurde. Die Absicht der beiden Brüder war, im Konzil ein Dokument durchzusetzen, in dem die katholische Kirche die "elenden Juden" - so wörtlich - einlud, ihre Halsstarrigkeit aufzugeben und sich in den Schoß der Kirche aufnehmen zu lassen. Von den damals in vielen Ländern bereits emanzipierten jüdischen Gemeinden wurde diese unverblümte Einladung als eine unbefugte Einmischung in ihren internsten geistigen Bereich empfunden. Das Dokument wurde nie verabschiedet, aber dieses "Gespräch" artete in eine scharfe Polemik aus, die die Kluft zwischen Kirche und Synagoge vertiefte.

Einen weit besseren Ansatz zu einem Gespräch gab es im Deutschland der zwanziger Jahre. Seine Pioniere waren jüdischerseits Martin Buber und Franz Rosenzweig, christlicherseits unter anderen Viktor von Weizsäcker. Bei diesem Versuch spielte das religiöse Element keine zentrale Rolle. Es ging hier um die gemeinsame Sorge um den Menschen. So nannte Buber die Zeitschrift, die diesem Gespräch dienen sollte, "Die Kreatur"; 1926 gegründet, stellte sie bereits 1930 ihr Erscheinen ein.

Bevor es zu einem ehrlichen Glaubensgespräch kommen konnte, mußte christlicherseits eine unerläßliche theologische Voraussetzung erfüllt werden. Wie die Mehrzahl der großen jüdischen Rabbiner den christlichen Glauben als den für die Völker gültigen Weg zu Gott anerkannt hatten, so mußte sich auch die christliche Theologie dazu durchringen, das Judentum als die für dieses Volk gewollte und weiter zu recht bestehende Religion anzunehmen, auch für die Zeit nach Christus. Diese Wende in der christlichen Auffassung hat ihren Ausdruck in der Erklärung des 2. Vatikanums über die nichtchristlichen Religionen gefunden. Dort heißt es, daß die Wiedervereinigung des gespaltenen Gottesvolkes, Juden und Christen, erst am Ende der Zeiten erwartet wird. Eine frühere Fassung, die nach Bekehrungsabsicht klang, wurde von der überwiegenden Mehrzahl der Konzilsväter verworfen. Daraus ergibt sich, daß die Kirche heute nicht mehr mit der Bekehrung des jüdischen Volkes rechnet - die eventuelle Glaubensentscheidung des einzelnen bleibt davon selbstverständlich unberührt -, sondern das Nebeneinander von Kirche und Synagoge als Gegebenheit annimmt. Auf dieser Basis ist ein Dialog möglich, denn so stehen sich Juden und Christen zum ersten Mal in ihrer tragischen zweitausendjährigen Geschichte als gleichberechtigte Partner gegenüber.

Dieses Gespräch hat seit einigen Jahren hie und da begonnen. In den Vereinigten Staaten, wo es fast 6 Millionen Juden gibt, in Israel, wo einerseits das Mißtrauen stark ist, andererseits sich hier aber der Jude auf eigenem Boden sicherer fühlt, in England, Holland und einigen anderen Ländern. Die Teilnehmer an diesen Gesprächen sind jüdischerseits noch eine winzige Minderheit, aber sie leisten Pionierarbeit für die Zukunft, denn in jeder dieser Zusammenkünfte wird das jüdische Mißtrauen etwas abgebaut, die Aufrichtigkeit des christlichen Partners bewiesen.

Auch in Deutschland gibt es solche Gespräche, zuerst auf wissenschaftlicher Ebene, z.B. zwischen Exegeten. Solche Gespräche werden besonders von dem Kreis des "Freiburger Rundbriefes" und der Zeitschrift "EMUNA" gepflegt. Die besondere Absicht der letzteren ist es, über alles, was zur "Diskussion über Israel und Judentum" gehört, zu informieren.

Es gibt auch Gespräche, die einem größeren Publikum zugänglich sind. In den letzten Jahren haben, z.B. in Bendorf, evangelische und katholische Deutsche junge jüdische Menschen aus dem Ausland eingeladen, zu einem gemeinsamen Bibellesen oder um bestimmte Themen, die beide angehen, zu diskutieren. Hier treffen sich Angehörige einer unbelasteten Generation; ohne ein Jota ihrer eigenen Überzeugung aufzugeben, gelingt es ihnen, dem Gesprächspartner einen Einblick in die eigene Tradition zu geben, die beide bereichert und im eigenen Glauben stärkt.

Die gemeinsame Schriftlesung stellt langsam eine seit zweitausend Jahren unterbrochene Verbindung wieder her. Sie wird Juden und Christen nicht um einen Altar vereinen - dies ist auch nicht ihre Absicht -, aber doch werden diese Gruppen mehr erreichen als nur den Abbau der gegenseitigen Vorurteile. Edward Schillebeeckx schrieb vor kurzem, das Christentum müsse die Orthopraxie, das rechte Tun, stärker betonen als, wie bisher, die Orthodoxie, das rechte Glauben. Dieses Verständnis der biblischen Botschaft als rechtes Tun ist jüdisches Erbe. Dort geht es weniger um Dogmen als um das Handeln, wie es gerade bei Johannes und in dem Jakobusbrief zum Ausdruck kommt. Juden und Christen erwarten beide das Ende der Geschichte im messianischen Reich; der Jude ist überzeugt, daß es erst kommen wird, wenn der Mensch alles in seiner Macht Stehende getan hat, um diese Welt zu verwandeln und so dem Endreich näherzubringen. Dies trifft aber auch für den Christen zu, denn in Matthäus 25, in der Parabel vom Jüngsten Gericht, heißt es, daß nicht jene bei Christus sind, die fest geglaubt haben, sondern die, die die Hungernden gespeist, die Gefangenen getröstet, die Armen gekleidet haben.

Diese Gespräche haben bereits hier und dort zu gemeinsamen sozialen Aktionen geführt, und so werden Christ und Jude eine Herausforderung füreinander, ein Ansporn zu einer Aufgabe, die ihnen beiden gestellt ist.

Charlotte Klein