Erinnerung an Dr. Charlotte
Klein
von Dieter Kittlauß
Lionel Blue - Zu Ehren von
Charlotte Klein Predigt aus der Totenmesse für Charlotte Klein am 5.
März 1985
In Charlottes Generation benutzten die Leute, die in dieser Zeit
lebten und litten, eine Redewendung, die man oft hören konnte: "ist schwer
zu sein ein Yid" - und die Leute pflegten ihr Gesicht zu verziehen und zu
antworten: "Es ist wirklich schwer, in unserer Zeit ein Jude zu sein." Und es
war besonders schwer, ein Jude zu sein, wenn man deutsche Jüdin war, die
katholische Nonne wurde. Um Charlotte zu verstehen, muß man sie vor
diesem Hintergrund sehen. Hier unter uns sind zwei Rabbiner, die das besser
nach vollziehen können als ich: Rabbiner Gryn und Rabbiner
Friedländer. Es ist ein Hintergrund von Demütigungen, Bitterkeit und
Gewalt.
Viele konnten damit nicht fertigwerden. Stephan Zweig nahm sich
das Leben. Einige zogen sich voller Bitterkeit in sich selbst zurück.
Andere verloren ihren Lebenswillen, weil sich die zerstörerischen
Kräfte in ihnen festgesetzt hatten. Alle, die diese Zeit durchlebten,
hatten eine große Last zu bewältigen. Man konnte nicht einfach den
Zorn, den Groll, die Ungerechtigkeit und die Beschuldigungen aus dieser
schrecklichen Zeit in sich niederkämpfen. Man mußte sie so gut wie
möglich ertragen. Um zu überleben, den Ballast durchs Leben tragen zu
können und mit ungebrochener Schaffenskraft zu überleben,
mußten gewöhnliche Menschen außergewöhnlich werden. Einen
anderen Weg gab es nicht. Ich habe gehört, daß eine der Schwestern
zu Charlotte sagte, als sie dem Orden beitrat: "So, jetzt sind sie hier und
können ihre Vergangenheit vergessen. Sie existiert nicht mehr; Sie sind
neu geboren worden." Aber das war einfach nicht wahr, das war nur ein frommer
Wunsch. Charlotte mußte mit dieser Last leben, mit diesem schrecklichen
Erbe, wie alle anderen Juden und Jüdinnen aus dieser Zeit.
Als ich Charlotte vor mehr als fünfzehn Jahren zum ersten Mal
begegnete, trug sie eine schwarze, einem Zelt ähnelnde Tracht und schien
ziemlich verschlossen zu sein (Später fand ich heraus, daß sie ihre
Augen unter Kontrolle hielt.). Ich überlegte bei mir: "Läuft sie vor
unserer schrecklichen Vergangenheit davon? Ist ihr Christsein authentisch? Ist
es einfach das Zurückschrecken vor einem zu heißen Eisen?" Als ich
Charlotte näher kennenlernte, wußte ich, daß das nicht der
Fall war. Charlotte hatte sich ihrer Vergangenheit gestellt. Sie war keine
glaubende Jüdin, sie war eine fromme Christin. Sie war keine messianische
Jüdin, kein "jew for Jesus", sie war eine gläubige katholische
Christin. Sie versuchte nie, dieser Frage aus dem Weg zu gehen. Die beiden
Religionen sind nicht gleich, sie sind miteinander verwandt, aber nicht
identisch. Charlotte hatte gewählt, und sie wußte, auf welcher Seite
sie stand. Das muß erwähnt werden, denn sie war eine entschiedene
Frau. Sie hatte eine persönliche Erfahrung gemacht und ließ sich auf
sie ein. Sie wußte, was sie wollte. Ganz gleich, ob sie in einer
zeltähnlichen schwarzen Tracht steckte oder in Hosen mit einer
Zigarettenspitze in der Hand, es waren zwei verschiedene Stile derselben
Person. Sie war und blieb Katholikin aus Überzeugung.
Schön und gut, aber warum kommen dann vier Rabbiner hierher,
um das Kaddisch für sie zu sprechen, was ungewöhnlich ist, wenn
jemand die jüdische Glaubensgemeinschaft verlassen hat? Weil sie nie
versucht hat, etwas zu sein, was sie nicht war. Und ich bin sehr froh
darüber, daß Schwester Louis-Gabriel wieder Dr. Charlotte Klein
wurde, weil sie abgesehen von ihrem Katholizismus eine "Yekke" war, ein
deutsch-jüdischer Flüchtling. Sie hatte die Unausgeglichenheit eines
Menschen an sich, "der seine Kultur häufiger als seine Schuhe gewechselt
hat". Schauen Sie sich all die Leben an, die sie leben mußte ... es war
sehr schwierig. Sie wurde immer als "Yekke" erkannt, und sie versuchte auch
nie, etwas anderes zu sein. Wir können respektieren, was sie als Christin
getan hat, weil sie nie versuchte, ihrer jüdischen Seite auszuweichen. Sie
war ein Teil von ihr. Außerdem versuchte sie nie, sich ihrer
jüdischen Verantwortung zu entziehen, sondern sie zu erfüllen. Sie
kämpfte hart in der Nachfolge ihres Herrn und versuchte, ein
jüdisches Werk im Herzen der Kirche zu vollbringen, das nur sie hat tun
können. So wurde sie ihrer Verantwortung als Jüdin gerecht, und
deshalb sind vier Rabbiner hier, um das Kaddisch für eine deutsche
Jüdin zu sprechen, die eine katholische Nonne wurde und die als solche in
Jerusalem arabische Kinder unterrichtete.
Es war nicht leicht, eine solche Bürde zu tragen. Niemand
konnte so etwas wirklich gut. Manchmal waren es der Zorn, manchmal die
Probleme, die überhand nahmen, und dann mußten andere Menschen mit
den Gefühlen fertigwerden, die durch die Katastrophen dieser Zeit immer
wieder ausgelöst wurden. Offen gesagt, ich glaube nicht, daß
Charlotte ohne Mary (= Sr. Mary Kelly, Anm. der Red.) hätte durchhalten
können. Jeder braucht Liebe. Gott gab Charlotte die Liebe, die sie
brauchte, um all jenen zerstörerischen Erfahrungen entgegenzuwirken, und
die ihr die Kraft gab, jene außergewöhnliche Frau zu werden, die sie
war; stark genug, die Belastung zu ertragen, in einer solch unheilvollen Zeit
geboren zu sein.
Gerade weil Charlotte in ihrer eigenen Person um die Tiefe
religiöser Spaltung wußte, nahm sie den interreligiösen Dialog
sehr ernst. Er war von entscheidender Bedeutung für sie. Nichts durfte
ausgeklammert, umgangen oder verwischt werden um einer leichtfertigen
Ökumene willen. Charlotte setzte sich für echten interreligiösen
Dialog ein. Sie rief alle Teilnehmer auf zu ernsthafter wissenschaftlicher
Arbeit, zur Anerkennung des Versagens in der Vergangenheit, zur Benennung der
Vorurteile und zur Förderung des guten Willens.* Keines dieser Dinge war
leicht, aber alle waren sie notwendig. Charlottes Buch, ihre Artikel,
Broschüren, Vorträge und vor allem das Zentrum in Chepstow Villas
sind die Grundlagen des Dialogs, die sie legte und zugleich ihr Denkmal.
Es ist schwer, ein Jude zu sein; es ist schwer, eine deutsche
Jüdin zu sein, die katholische Nonne wurde. Meine letzten beiden
Grußworte stammen aus der Tradition, und wir rufen sie Menschen bei
Beerdigungen zu: "Mögen wir uns wiedersehen in festlicher Stimmung.
Mögen wir uns wiedersehen beim Fest, das Gott den Gerechten bereitet."
Mögen auch wir, wenn wir ihr nachfolgen, genau wie sie unsere Pflichten
erfüllt haben.
Und der andere jüdische Gruß, der so gut auf Charlottes
Leben paßt, heißt: "Aufs Leben!" Charlotte hat in ihrem Leben viel
Zerstörung erleben müssen. Trotzdem entschied sie sich - egal ob bei
Harrods im Ausverkauf oder in den Artikeln, die sie schrieb, oder in der
Arbeit, die sie tat, immer für das Leben - und nicht für die
Zerstörung. Jetzt hat sie Leben in noch viel reicherem Maße. Also,
"l'Chaim!, Aufs Leben!" - und auf das ewige Leben, in das sie eingegangen ist.
Lionel Blue Rabbiner Leo Baeck College, London
Mit freundlicher Genehmigung aus: "Christology and Religious Pluralism.
In Memoriam Charlotte Klein", hrsg. von Mary Kelly NDS, London, 1990, S.
49-51 Übersetzt von Elisabeth Pivcevic
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