Dieser Aufsatz ist erschienen in: Heimatkalender
für den Krs. Koblenz 1953 Zum Andenken an meinen hochverehrten
Lehrer Herr Erich Dittmann, Gewerbeoberlerhrer
In Schilf und
Weidicht
von Erich Dittmann , Bendorf
Hart am Rhein entlang zieht sich ein Stück Niemandsland.
Seine Breite ändert sich mit dem Wasserstand des Flusses. Das Ufer
säumt ein dichter Schilfgürtel. Selten ist Rohr dazwischen. Nach der
Wasserseite zu stufen Igelskolben, Schwertlilien und Süßgras die
Schilfwand ab. Teichbinse, Pfeilkraut und Froschlöffel wagen sich tiefer
ins Wasser hinein. War der Wasserstand längere Zeit niedrig, dann zaubern
die Blütenstände der Blumenbinsen ein zartes Violett über das
braune, gurgelnde Wasser. Der flutende Wasserhahnenfuß ist nicht so sehr
vom Wasserstand abhängig. Reckt er seine tausend und abertausend
weißen Blüten über die Oberfläche, dann sieht es aus, als
wenn Schnee gefallen wäre. Wo Schilf und Weiden den Strom des Wassers
brechen, blühen still und verborgen gelbe Teichrosen. Jäh
zerstört das Hochwasser dieses Idyll. Monatelang müssen die Pflanzen
untergetaucht warten, bis sie wieder wachsen, blühen und fruchten
können.
Wie ein Schutzwall liegt ein mannshoher, dichter Brennesselwald
vor diesem Uferstreifen. Ein Stück noch kriechen die Nesseln den Damm
hinauf, auf dem die Züge vorbeirattern. Hinter dem Damm, auf der
Straße, jagen sich die Autos im Kampf um Sekunden. Hier, im Schilf,
spürt man nichts von der Unrast der Zeit.
Im Winter, als Frost war, habe ich mir einen Weg durch das alte,
braune Schilf getreten. Die Stengel splitterten wie Glas. Alles Leben schien
erstorben. Aber ab und zu schossen Amseln mit gellendem Geschrei aus dem
Schilfdickicht. Meisen flogen von Weide zu Weide. Hier und da huschte ein
Zaunkönig vor den Füßen weg. Ein paar Heckenbraunellen hatten
sich das Schilf als Winterquartier auserkoren. Stieglitze saßen oft auf
Disteln am Damm und zerhackten die Blütenstände. Wenn sie zur
nächsten Staude weiterflogen, blitzte das Goldgelb ihrer Flügel auf.
Im Brombeergestrüpp suchten leuchtend rote Gimpel nach den letzten Beeren,
und einmal war sogar ein Flug Erlenzeisige hier.
Wo Weiden und Erlen mit Unterholz und Schilf einen dichten
Bruchwald bilden, trifft man auch den eigenartigsten Vogel des Uferstreifens:
die Weidenmeise. Im Herbst und Winter fällt sie sofort auf. Ihr weiches,
gedämpftes si si dää da" hört man an ihren
Lieblingsplätzen den ganzen Tag über. Die Stimme ist auch das
wichtigste Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Sumpfmeise, deren hartes,
klapperndes zia da da da" nicht damit zu verwechseln ist. Dem Aussehen
nach sind beide kaum auseinanderzuhalten. Daß die Weidenmeise ein
Mattkopf, die Sumpfmeise ein Glanzkopf ist, kann man im ungewissen Licht des
Sumpfwaldes nicht erkennen. Sicherer ist noch der Flügelstreif, den die
Weidenmeise besitzt. Das beste Kennzeichen bleibt aber die Stimme. So lebhaft
die Weidenmeisen im Herbst und Winter sind, so heimlich und still werden sie im
Frühjahr. Man kann ihnen dann stundenlang nachgehen, ohne einen Ton zu
hören. Gewöhnlich entdeckte ich sie beim Zimmern der Bruthöhlen.
Je nach der Härte des Stammes, den sie sich dazu aussuchten, dauert diese
Arbeit ein bis drei Wochen. Sie bauen gern niedrig. Während der Brut- und
Fütterzeit sind sie noch vorsichtiger. Auch die Jungen verhalten sich sehr
ruhig, und erst im Spätsommer, wenn sie herumzustromern beginnen, erklingt
wieder die jeden Kenner elektrisierende Stimme.
Die Triebe des Schilfes sprießen im Frühjahr wie
Dolche. Ich hatte zu tun, um meinen Weg offen zu halten. Meine Aufmerksamkeit
galt jetzt den Blaukehlchen. Sie ziehen meist einzeln. Im verschlammten Schilf
und Weidicht rasten sie gern. Mäusen gleich huschen sie durchs
Gestrüpp, und selten einmal zeigt eins die blaue Brust mit dem
weißen Stern. Wie ein Juwel leuchtet dieses Blau zwischen Schlamm und
verrottendem Pflanzenwust.
Überall in den Zweigen hängen Pflanzenreste vom letzten
Hochwasser. Auch am Grunde der Stämme hat sich viel verfangen. Als ich
durch einen Haufen alten Schilfes durchbreche, sehe ich im Fallen einen
Schatten aus einer Weide huschen. Ich gehe näher, suche die Weide ab und
finde ein Nest mit vier weißen, runden Eiern. Eine Mauserfeder gibt
Gewißtheit: Waldohreule. Das Nest sitzt kaum zwei Meter über dem
Boden. Schnell baue ich mir eine Wand aus Schilf und Weiden. Dann trete ich mir
noch einen Weg zum Bahndamm. Ein paar Tage später gehe ich mit der Kamera
hin. Die Eule brütet. Ich versuche, mich anzuschleichen; aber sie streicht
ab, und ich muß nun hinter der Schilfwand warten. Ich hocke mich auf
einen Pfahl, den ich mir vorsorglich eingeschlagen habe. Die Weidenzweige
schwingen langsam im Winde hin und her. Ein Rohrammer ruft unentwegt sein
zia di zissiß". Eine Blaumeise kommt in mein Versteck, sieht mich
und fliegt zeternd davon. Dann ist es wieder still. Ich warte. Minuten werden
zu Ewigkeiten. Klang da nicht ein leises huh"? Ein Vogel schwang sich in
die große Weide ein. Beinahe fahre ich zusammen, als ich so
plötzlich in ein paar Eulenaugen starre. Auf einem dicken Ast sitzt sie,
den Körper fast waagerecht nach vorn gebeugt. Ihre Augen suchen die Wand
zu durchdringen, hinter der ich mich verberge. Hat sie mich schon gesehen? Ich
wage kaum noch zu atmen. Mücken sitzen in meinem Gesicht. Ich darf sie
nicht vertreiben. Die geringste Bewegung könnte die Eule verjagen, und das
Warten begänne von neuem. Meine Augen fangen an zu tränen. Hustenreiz
würgt in der Kehle. Ich schlucke und schlucke. Endlich fliegt die Eule zum
Nestbusch, sitzt auf dem Nestrand, tritt über das Gelege und kuschelt sich
tief in die Nestmulde. Aber ihre Katzenaugen lassen das Loch in der Schilfwand,
durch das die Kamera schaut, nicht einen Augenblick los. Langsam, unendlich
langsam beuge ich mich über den Apparat, überprüfe das Bild im
Spiegel und löse den Verschluß aus. Vorsichtig drücke ich den
Kassettendeckel hinein und versuche die Platten zu wechseln. Das ist zuviel
für meine Eule. Sie fliegt weg. Der Morgen ist kühl. Ich fürchte
um das Gelege und mache mich deshalb schnell davon.
Ein paar Wochen später gehe ich wieder meinen Weg durchs
Schilf. Schon nach den ersten Schritten bin ich im grünen Meer
untergegangen. Hoch über dem Kopf schlagen die Stengel zusammen. Wie ein
Schwimmer strecke ich beide Arme nach vorn, drücke die Pflanzen beiseite
und ziehe die Füße nach. Bei jedem Schritt kracht und prasselt es.
Mühsam nur komme ich vorwärts. Ich wende mich zum Wasser. Jäh
bricht das Ufer ab. Auf der unteren Terrasse steht das Schilf locker.
Dafür muß ich durch dicken, zähen Schlamm stapfen. Manchmal
bleiben die Gummistiefel stecken und ich muß die Hände zu Hilfe
nehmen. Ich bin nicht das einzige Lebewesen, das hier herumläuft. Im
Schlamm wimmelt es von Spuren. Sie stammen vom grünfüßigen
Teichhuhn. Alle hundert Meter ist ein Nest. Auf altem Röhricht, 20 bis 30
cm über dem Wasser, ist eine flache Mulde mit Schilfblättern
ausgelegt und darin liegen fünf oder sechs ockerfarbene, dunkelrot
gesprenkelte Eier. Von dem Teichhühnchen ist nichts zu sehen. Vielleicht
ist es ganz in der Nähe. Untergetaucht, sich mit den Füßen am
Grund festhaltend, den Kopf unter einem Blatt versteckt, wartet es, bis die
Gefahr vorüber ist. Zur Zugzeit sind sie nicht so scheu. Anfang März
kommen die Quartiermacher" von der Winterreise zurück. Im April
treffen die letzten ein. Dann sieht man manchmal fünfzehn bis zwanzig
Stück beisammen. Überrascht man sie auf der Wasserfläche,
flüchten sie meist. Schwarze Vögel rennen dann über das Wasser.
Hat man das Glas schnell genug am Auge, erkennt man vielleicht noch die
weißen Unterschwanzdecken und die siegellackrote Stirnplatte, und schon
ist alles im Schilf verschwunden.
Während der zwanzigtägigen Brutzeit bauen die
Teichhühnchen weiter. Wenn sich die Gatten im Brüten abwechseln,
bringen sie grüne Blätter mit und legen sie um das Nest. Man hat den
Eindruck, daß sich die Tiere am schönen Grün erfreuen. Am Ende
der Brutzeit hat sich auf diese Weise ein richtiger Kranz um die
ursprünglich flache Mulde gebildet. Die Jungen, schwarze
Dunenbällchen mit roten Krüppelhändchen und rotem Schnabel, sind
Nestflüchter. Da vom ersten Ei ab gebrütet wird, schlüpfen die
Jungen sehr ungleich. Ein Gatte, wahrscheinlich das Männchen, führt,
während der andere weiter brütet. Trotz der Sechsergelege sah ich nie
mehr als vier Junge bei einem Paar. Ein Altvogel vorn, einer hinten, die Jungen
in der Mitte, so sieht man sie am Ufer entlang schwimmen oder durch das Schilf
laufen. Der ewig zuckende weiße Schwanz wirkt im ungewissen Licht des
Schilfwaldes wie ein Leuchtsignal, dem die Jungen immer wieder
nachtrippeln.
Im Eulennest liegen drei Wollknäuel. Als sie den Fremdling
sehen, fauchen sie und knappen mit den Schnäbeln. Das kleinste legt sich
auf den Rücken und schlägt mit den Fängen nach meiner Hand. Die
anderen gehen in Abwehrstellung. Die Flügel gespreitzt, den Kopf
angezogen, warten sie auf den Augenblick, wo sie dem Eindringling eins mit
ihren krummen Schnäbeln auswischen können. Ich mache eine Aufnahme
und beringe die drei. Vielleicht erhalte ich eines Tages eine Nachricht
über ihr Schicksal. Meine beste" Waldohreule wurde zweieinhalb Jahre
alt 750 km von ihrer Heimat entfernt geschossen. Waldohreulen galten bis dahin
als Standvögel.
Im Weidicht singt und jubiliert es. Buchfinken schlagen.
Überall läuten die feinen Stimmen der Meisen. Der
Weidenlaubsänger ruft sein stereotypes zilp-zalp". Der Firtis pfeift
seine abfallende Tonreihe. Das Schwarzplattl schließt sein Lied mit
jauchzendem Überschlag. Gartengrasmücken wetteifern mit ihm. Den
Rotkehlchen perlen die Töne aus den Kehlen. Alle aber übertönt
die Nachtigall. Ein wenig bin ich immer enttäuscht, wenn ich an ihrem Nest
stehe. Im Brennesseldickicht, eine Handbreit über dem Boden, ruht ein
einfach gebautes Nest auf einigen alten Blättern. Hier verbringen die
Sänger ihre ersten Lebenstage. Sie verlassen das Nest sehr früh. Das
warme Nest" ist für den Vogel durchaus nicht immer der Ort des
Geborgenseins. Im Gegenteil, hier verbringt er seine gefährlichste Zeit.
Wiesel und Mäuse, die das Nest entdecken, vernichten die ganze Brut.
Überschwemmungen, starke Regengüsse, Ameisen, selbst große
Schnecken sind nicht weniger gefährlich. Darum flüchten die jungen
Nachtigallen, sobald die Beine stark genug sind, nach allen Seiten auseinander.
Im sicheren Versteck wartet jedes für sich auf den Lockruf der Eltern, der
neue Nahrung ankündigt.
Auch ins Schilf kommt neues Leben. Die Rohrsänger sind
zurückgekehrt zu kurzem Aufenthalt. Sie sind Spezialisten im Hüpfen
von Schilfstengel zu Schilfstengel, an denen sie sich seitlich anhalten. Der
Drosselrohrsänger, der größte von ihnen, erscheint hin und
wieder zur Zugzeit, knarrt ein oder auch zwei Tage sein karre karre kiet
kiet", und verschwindet dorthin, wo ausgedehnte Schilfbestände ein
besseres Leben ermöglichen. Für den Teichrohrsänger sind die
schmalen, von Weiden durchsetzten Schilfstreifen gerade richtig. Fast alle
hundert Meter sitzt einer und singt sein dscherre dscherre dei dei dei".
Am Zittern der Schilf Stengel erkennt man den Weg, den der Vogel nimmt.
Gelegentlich klettert einer höher. Dann erscheint ein braungelbes
Vögelchen, das aber bald wieder im sicheren Pflanzengewirr verschwindet.
Das Nest fand ich immer über dem Wasser. Es ist ein kunstvoller Pfahlbau.
In einer tiefen Mulde liegen die grünlichen, mit olivfarbenen Flecken
übersäten Eier. Wind und Wellen können das Schilf noch so sehr
hin und her schwingen, die Eier liegen wohlverwahrt in der tiefen Mulde.
Auf der anderen Rheinseite, bei Kesselheim, ist ein großes
Brennesselfeld, durchsetzt mit Schilf, Weiden, Wasserdost und Bärenklau.
Dort ist der Sumpfrohrsänger zu Haus. Jeder hat sein
Lieblingsplätzchen, einen dürren Stengel, einen Zweig, der Ausschau
nach allen Seiten zuläßt. Von dort aus tragen die Rohrsänger
ihr Liedchen vor. Das Kehlchen vibriert. Die hängenden Flügel
zittern. Was steckt nicht alles in dem Liede: Das Wetzen des Schilfes, das
Quaken der Frösche, der Rohrammerruf, das Stieglitzlied, das
Geschwätz der Grasmücken und vieles mehr. Kein Lied gleicht dem
andern. Keiner singt wie sein Nachbar. Einer bringt zarteste Pfeiflaute, ein
anderer kann sich nicht genug tun im Wetzen und Schleifen. Wenig Vögel
zeigen in ihren Liedern eine solche Abwechslung wie die unscheinbaren Kerlchen
auf den dürren Zweigen über dem Brennesselwald. Wasserdost und
Bärenklau sind die bevorzugten Hauspflanzen. Der Bau hat manchmal eine
beachtliche Höhe, denn er sitzt gern auf dem Boden auf.
Selten traf ich den Schilfrohrsänger am Rheinufer. Sein
heller Augenstreif macht ihn leicht kenntlich. Auch sein Balzflug ist
bezeichnend. Von Zeit zu Zeit schwingt er sich singend einige Meter in die Luft
und schwebt dann zu seinem Ausguck zurück. Bisher fand ich nur ein Nest.
Es stand im Bärenklau. Die Nestmulde war mit weichen Federn ausgelegt.
Vergangenes Jahr hatte der Bauer ein Stück Wiese nicht
gemäht. Dieses Jahr ist eine Wildnis daraus geworden. Einen Frühling
lang sang hier ein seltsamer Vogel. Singen kann man es fast nicht mehr nennen.
Ein ununterbrochenes Schwirren ist es, minutenlang, wie das Zirpen der
grünen Laubheuschrecke. Der Vogel sitzt auf einem dürren Zweig,
hält den Schnabel weit offen und schwirrt und schwirrt. Sein ganzer
Körper zittert. Es scheint ihn furchtbar anzustrengen. Kam ich ihm zu
nahe, verschwand er im Gras. Er läuft auf dem Boden und muß eine
ungeheure Geschicklichkeit im Durchschlüpfen besitzen, denn kein
Hälmchen regte sich. Obwohl ich wußte, daß es vergebens sein
würde, suchte ich doch nach dem Nest des Schwirls. Natürlich fand ich
nichts. Wie oft sucht man im Leben vergebens; wie oft lag das Gesuchte eines
Tages am Wege, wenn man gar nicht mehr daran dachte. So wird es mir auch mit
dem Nest des Schwirls gehen.
Die Einmaligkeit der Rheinaue und ihre Bedeutung für die
Gesamtökologie unseres Bendorfer Landschaftsraumes machen ihren Schutz zum
unbedingten Muss!
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