Auf der Bendorfer
Loh
Von Wilhelm Kleinmann, Bendorf
Morgens um sieben, gleich nach der Dusche
und der Pfeife Tabak, war ich draußen.
Es war gerade die beste Stunde des Tages, um
den in der Luft schwebenden Duft zu verspüren. Er kam aus den sommerreifen
Gärten, aus dem am Hause vorbeifließenden Großbach, er drang
aus der während der Nacht vom Regen durchwaschenen Erde, und er
strömte von den Höhen herunter und von den noch nebelüberzogenen
Rheinwiesen herüber. Die glänzende, aber noch nicht heiße Sonne
lag blinkend auf allen Dächern der Stadt und durchwärmte fast
unmerklich die frühe Kühle.
Ich blieb eine Minute mitten auf der stillen
Straße stehen, pumpte die Lungen voll und schaute in den jungen Glanz und
in den schönen, blauen Himmel.
Weiße Wolken, wie Ballons, strahlten
durchsichtig, näherten sich rasch aneinander, berührten sich,
trennten sich wieder und befanden sich plötzlich ganz woanders, wo sie
soeben gerade noch waren. In blanker Helle wanderten sie nach Westen. Der
goldene Hahn auf der Kirchturmspitze drehte sich, von einem leichten
Windstoß getrieben, um sich selbst, er flammte wie reines Feuer.
Überall zwitscherten und schmetterten die Vögel, und die Schwalben
schossen, in herrlichen Kurven auf- und niedersausend und jäh sich fallen
lassend, wie graue Silberpfeile dahin. Ein tollkühner Flieger ist ein
kleiner Anfänger gegen sie, dachte ich.
Ehe ich nun von der Mühlen- in die
Sayner Straße und dann nach wenigen Schritten in den schmalen Pfad
einbog, steckte ich mir die zweite Morgenpfeife an und winkte einem
Bauernburschen zu, der peitschenknallend und mit dem alten Hute schief auf dem
Ohr vor seinem hochbeladenen Heuwagen herging. "Ihr Hund", rief er mir
nachbarlich freundlich zu, "wälzt sich schon mit strampelnden Beinen im
nassen Gras."
"Bravo! Ich mach's ihm gleich nach",
antwortete ich lachend zurück. "So einem jungen Hund kann der Mensch die
Daseinslust abgucken."
"Viel Vergnügen dabei!"
"Fröhlichen Dank auch!"
Als ich kurz darauf, an den blühenden
Kartoffeläckern, den sauberen Gärten und an der neuen Kiesgrube
vorbeischlendernd, die halbe Höhe zur Loh erklommen hatte, kam mir auf
einmal die heimatliche Welt weiter, luftiger und anstaunenswerter vor. Meine
Augen genossen ein Fest, und alles in mir und um mich war erfüllt von
Wanderseligkeit und Licht. Was war von hier aus gesehen an allem Alltagskram
und Sorgenpacken schon dran? Zum Teufel damit! Mit diesem Wanzenzeug wirst du
schon fertig werden! Bange machen gilt nicht.
Da sprang der "Stropp", der kleine
Münsterländer, pechschwarz von Farbe, mit langem, glänzendem
Seidenhaar, mit jagdeifrigen, kohlendunklen Lichtern und gestreckten
Läufen aufgeregt kläffend über die Wiesenterrassen. Ich sah das
weiße Hinterteil eines Kaninchens durch das dicke, wirre Gestrüpp
weghoppeln. Da stand er verblüfft, der Hundkamerad, und schnüffelte
ärgerlich herum. "Ja, Stropp, nicht immer haben die Menschen und Hunde
Glück auf ihren Beutezügen, deshalb geht aber die Welt nicht unter,
versuch's immer wieder! Einmal klappt's!"
Ich überquerte eine frisch gemähte
Fläche, an einzelnen Halmen, an denen die scharfe Sense vorgeigeglitten
war, hingen noch die glitzernden Tauperlen. Sollte ich sie fortblasen? Nein,
laß sie von selbst zersprühen. Ich freute mich über ein
großes Feld, das gelb in der Sonne leuchtete, und in dem rote Mohn- und
dunkelblaue Kornblumen in verschwenderischer Fülle wuchsen. Ein
märchenbunter Anblick. Wenn das nicht schön war, was wäre denn
dann schön? Ich freute mich über herumsegelnde farbige
Schmetterlinge, über ein tiefes Hummelgebrumm und das Auftauchen einer
zarten, schillernden Libelle. Wieder fegte Stropp hetzend hinter etwas
Lebendigem her, ich konnte das flüchtige Tier nicht erkennen. Und dann
erspähte ich das Herrlichste an diesem Morgen zwei Bussarde, die
den mächtigen Himmelsraum durchschwebten, ihre wunderbaren Kreise zogen,
eine Weile bewegungslos im funkelnden Äther verharrten und
weiterschwebten, ihre Schreie drangen dünn zu mir herunter . . . Jetzt
waren sie über den dunkelgrünen Wäldern des Brex- und
Saynbachtales, und jetzt waren sie im Gleiß des Firmamentes zwei
verschwindende Pünktchen.
Das Dorf Stromberg auf seiner bewaldeten
Bergeshöhe glänzte weiß in der steigenden Sonne. Es erinnerte
mich an ein Bergnest in der spanischen Sierra Nevada, das ich auf meiner
Zirkusfahrt vom Auto aus gesehen hatte, und das mir im Gedächtnis haften
geblieben war.
Das Glockengeläut der Bendorfer Kirche
klang verwehend herauf zu mir, und mitten in die dunklen Töne gellte
plötzlich das langgezogene Signal des Westerwaldzuges, der wohl gerade in
den ersten Tunnel einfuhr. Das satte Grün ringsum tat meinen Schreib- und
Leseaugen gut, und meine Seele wuchs davon. Ich fühlte es mit jedem
Atemholen. Wenn du auch von Beruf ein Zimmermensch bist, so bist du doch kein
Stubenhocker geworden und bist das noch, was du von jeher warst ein
unbekümmerter, lebensgläubiger, die Heimat liebender und von der
Ferne besessener Vagant. Gott meinen Dank dafür! Ein Luft- und
Freiheitsmensch. Wer kann sagen, wie die Zeiten sich demnächst oder in
Zukunft gestalten. Ich lebe sie, wie sie sind, aber ich will sie frei und
luftig haben, sonst stelle ich mich gegen sie mit allen meinen Kräften.
Auf der Loh.
Ich hockte auf einem verwitterten Feldstein
unter den fünf breitkronigen Eichen wie in der dämmerig-kühlen
Halle eines gewaltigen Domes. Der Sonnenschein fiel durch das dichte Laub und
verzauberte mit seinem matten Leuchten den Platz.
Stropp, müde und keuchend, lag neben
mir hingestreckt mit heraushängender, roter Zunge.
"Ströppchen", sagte ich zu ihm, "wenn
wir einen Haufen Geld hätten, pfiffe ich noch heute alle Handwerker
unseres Städtchens heran, und sie müßten sofort mit dem Bau
einer einfachen, aber allen Stürmen trotzenden Freiherrn-Burg für uns
beginnen, genau an dieser Stelle."
Sieh dir das rheinische Land von hier aus
an!
Da weit hinten strömt aufblitzend unser
Rhein, jede hurtige, blausilbrige Welle ist deutlich zu sehen, weiße
Schiffe, dunkle Schlepper, bauchige Kähne, einer hinter dem anderen,
durchziehen flußauf- flußabwärts die Fahrtrinne, aus ihren
Schornsteinen flattern lange graue Rauchfahnen. Du siehst die grünen Ufer,
die geduckten Ortschaften und weiter weg die sich dehnenden Felder, wie
buntfleckige Tischtücher liegen sie da. Und im feinen Dunst der Horizonte
erstreckt sich die Bubenheimer Höhe von den Koblenzer Waldungen bis zu den
Andernacher Bergen, du siehst die Vorberge des Hunsrückes, der Eifel, des
Westerwaldes.
Kirchtürme ragen auf ihren Gipfeln weit
in das mittelrheinische Land hinaus, die Weitersburger, die Rübenacher
Kirchen, du kannst sie von allen Seiten aus sehen, wie fern du auch von ihnen
weg sein magst in unserem Koblenzer Raume.
Da sind die Orte Bendorf, Sayn, Engers,
Kaltenengers, das Kirchspiel mit seinen Dörfern Weis, Heimbach, Gladbach,
da sind Kesselheim, Mülheim, die Humboldthöhe, der Ehrenbreitstein,
um nur die sichtbarsten Ausblicke zu nennen.
Ich sog das fesselnde Gemälde in mich
hinein, als ob ich es nie zuvor betrachtet hätte. Unzählige
Ausblicke, dachte ich, hast du in deinem langen Wander- und Reiseleben in dich
aufgenommen, hat es viele solche wie hier von der Bendorfer Loh aus gegeben?
Ich mußte angestrengt darüber nachsinnen. Gewiß, da waren
eindrucksvollere, gigantischere, fremdartigere, aber diese hier gehören
nun einmal zu dir, sie haben deine Jugend begleitet, haben dich mitgeformt,
dich zu dem rheinischen Menschen gemacht, der du bist.
"Ihr Rheinländer seid lebensbejahende,
liebenswürdige Leute, ihr seid begeisterungsfähig und optimistisch,
begabt mit einem leichten Sinn, das heißt: Nur dann, wenn es euch gut
geht und ihr bei Wein, Weib und Gesang sorgenfrei dem nächsten Tag
entgegenjauchzt", sagte mir einmal ein Norddeutscher, der weit herumgekommen
war, "aber wenn's dem rheinischen Völklein dreckig geht und das Leben
nicht so glänzt, wie besonders ihr vom Rhein es wünscht, dann ist
nichts los mit euch, dann seid ihr eine verdrießliche, schlechtlaunige,
mutlose und schwarzseherische Gesellschaft, sehr zum Unterschied von uns
Berlinern und Hamburgern. Noch eins: Ihr seid rasch und groß im
Versprechen, morgen schon ist alles vergessen. So ist es!"
Hatte er recht, der Seefahrer und
Weltbummler von der Waterkant? Vielleicht, dachte ich, ein Kern Wahres wird
dran sein, aber ich freue mich dennoch, ein rheinischer Mann zu sein! Die
anderen haben auch ihre Untugenden und rissige Stellen. Wesentlich ist,
daß wir einander vertragen!
Plötzlich stand in der Wiese nicht weit
von meinem Dom der Schäfer mit seiner Herde und seinen wachsamen, zottigen
Hunden. Stropp hatte sich schon mitten in die Herde hineingestürzt. Er
wurde schnell rausgepfiffen.
"Am schönsten ist's hier oben bei
Sonnenuntergang. Diese Farben am Himmel! Kein Maler bringt das fertig, glauben
Sie's?" "Ich weiß es", erwiderte ich, "und ich kenne auch das Bild in
kalten Winternächten, wenn der Schnee im eisigen Sternenglühen
schimmert, und unser Bendorf da unten mit seinen tausend Lichtern in den
Häusern, Fabriken, Bahn- und Hafengeländen wie eine Riesenstadt
wirkt."
"Möchten Sie wieder in die Welt hinaus,
so wie sie heute da draußen ist?" "Ja. Immer zieht es mich hinaus. Ich
bin ein Wanderer. Ich muß unterwegs sein, sonst bin ich ruhelos in meinem
Inneren. Aber wenn ich draußen bin, lockt diese Bendorfer Loh wieder,
daß ich Heimweh nach ihr bekomme." Der Schäfer nickte, wir
verabschiedeten uns.
Ich eilte noch einmal zum Klosterschlagwald
mit seinen hohen prächtigen Buchen, und dann rannten wir, mein Hund und
ich, einen kurzen Blick noch auf die Sayner Burgruine werfend, über
abgemähte Wiesen, kleine Hügel, durch enge Hohlen, wildes
Gestrüpp ins Tal hinab.
Und morgen oder übermorgen, wenn's dich
am Schreibtisch wieder überfällt und du mit deinen Geschichten nicht
vorankommst, dann kommt die Kreuzhecke an die Reihe, der Meisenhof, der
Römerturm, und die Wälder nach Grenzhausen zu warten auch noch auf
uns.-----------
Mein Hund nahm keine Notiz mehr von meinem
stummen Selbstgespräch. Er raste in die Küche.
Ich kritzelte auf meinen Schreibblock, bevor
ich mich an den Mittagstisch setzte: Heute noch! Nicht verschwitzen! Auf der
Bendorfer Loh. Skizze! |