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Dr. Brosius und sein Asyl für Gehirn- und Nervenkranke

Von Dieter Kittlauß


Dieser Beitrag ist in folgende Absätze gegliedert


Zur Einführung und Vertiefung des nachfolgenden Aufsatzes sei auf den schon früher veröffentlichten Beitrag des Autors zum Thema verwiesen:

Von der Villa Sayn - zum Hedwig - Dransfeld-Haus in Bendorf a/Rh.



Dr. Brosius und sein Asyl für Gehirn- und Nervenkranke

Auf den Spuren des Dr. Brosius


Dr. Caspar Max Brosius (1825-1910) wurde 1855 Assistenz-Arzt an der von Dr. Albrecht Adolf Erlenmeyer gegründeten Privatklinik für Gemüts- und Nervenkranke in Bendorf a. Rhein. Bereits 1857 eröffnete er in Bendorf seine eigene Anstalt.

"Bei der Behandlung seiner Kranken ging er von dem menschenfreundlichen, damals aber noch wenig Anklang findenden Grundgedanken aus, die äußeren Verhältnisse der Kranken möglichst denen der Gesunden, ihren Gewohnheiten entsprechend, gleichzustellen" (so der Medizinhistoriker Theodor Kirchhoff). Brosius gehörte so zu den Pionieren der "sanften Psychiatrie", des sog. "familiären Systems", einer Behandlung ohne die bisher übliche brutale Gewalt, obwohl er in der Öffentlichkeit weniger bekannt wurde. Auch in Bendorf wurde Brosius lange Zeit vergessen.

1997 musste ich meine Dienstwohnung im Hedwig - Dransfeld - Haus aufgeben und fand im Sayner "Fünftannenhaus", das Ende der 80er Jahre von Hans Faust erworben und zu einem Dreifamilienhaus umgebaut worden war, eine neue Wohnung. Zu meiner großen Überraschung entdeckte ich mich auf einmal "auf den Spuren des Dr. Brosius": Die beiden Gebäude in der Nachbarschaft wurden zu einem schmucken Hotel saniert und waren die ehemals berühmte "Villa Sayn", die zweite Klinik des Dr. Brosius aus dem 19. Jahrhundert, und das Fünftannenhaus, in dem ich nun mit meiner Familie wohnte, war das offene Badehaus des Sanatoriums, wo illustre Gäste kurten. An anderer Stelle wurden Einzelheiten dargestellt; deshalb verweise ich hier auf drei Berichte im INTERNET, die sich mit dieser Geschichte befassen.

Eines Tages drückte mir Werner Kutsche, der sich mit der GGH (Gesellschaft für Geschichte und Heimatkunde von Bendorf und Umgebung e.V.) in hervorragender Weise um die Geschichte unserer Stadt verdient und diese durch sein Internetprojekt weltweit bekannt macht, ein kleines Heft in die Hand, das 1867 bei August Hirschwald 1867 in Berlin verlegt und bei Johann Buet in Coblenz gedruckt worden war. Sein Autor: Dr. C. M. Brosius; sein Titel:

Bendorf - Sayn

Asyl für Gehirn- und Nervenkranke

nebst Bemerkungen über Curmittel bei Irren.

Ich war furchtbar gespannt, da ich wusste, dass Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Wende in der Psychiatrie eingesetzt hatte. Sollte Brosius tatsächlich zu den Pionieren der europäischen Psychiatrie gehören und war Bendorf an dieser Entwicklung aktiv beteiligt? Nachdem ich das kleine Heft gelesen hatte, hatte ich keine Zweifel, dass dies tatsächlich der Fall war. So habe ich mit Werner Kutsche den Plan gefasst, dieses Heft zu dokumentieren und der Öffentlichkeit zugängig zu machen.

Folgende Gliederung habe ich gewählt:

  • An einigen ausgewählten Beispielen werde ich verdeutlichen, dass und wie sich hier in Europa die uns heute selbstverständliche Medizin erst seit der Aufklärung entwickelte
  • Anschließend werde ich den Leser ein Stück auf den langen Entwicklungsweg zum Psychiatrieverständnis der Neuzeit führen.
  • Nach diesen Hintergrundinformationen orientiere ich über Brosius, sein neues Asyl in der Villa Sayn und seine therapeutischen Arbeit.
  • Dann wird die Selbstdarstellung von Dr. Brosius über sein Sayner Asyl im Originaltext wiedergegeben



Kurze Einführung in die Geschichte von Krankheit und Heilung bis in die Neuzeit


Um die Leistungen der Bendorfer Psychiater im 19. Jahrhundert und damit auch von Dr. Brosius besser einschätzen zu können, schauen wir ein wenig in die Vergangenheit.

Das Erbe der antiken Medizinkenntnisse wurde vor allem in der arabischen Kultur bewahrt. Europa blieb davon unberührt. Fast alles was uns heute im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit selbstverständlich ist, gab es weithin nicht. Der mittelalterliche Mensch wusste wenig über die biologischen Prozesse in unserem Körper. Kenntnisse über das Körperinnere kamen von den Tieren, die geschlachtet wurden und von aufgeschlitzten Menschen.

Über die Krankheiten gab es viele Tabus und abergläubische Ängste. Sowohl individuelle Krankheiten wie auch die großen Seuchen waren in ihren Ursachen unbekannt, aber gehörten mit Selbstverständlichkeit zum Leben. Die uralten Vorstellungen von Krankheit als Strafe für die eigenen Sünden, und die der Vorfahren, waren trotz der Botschaft Jesu lebendig geblieben. Heilungsversuche waren deshalb eine Mischung von Naturverfahren (Tees, Säfte, Packungen, Schwitzen, Blutegel, Amputation, Dämpfe, Einreibungen, Bäder u. a. m.) und religiös - abergläubischen Praktiken (Wallfahrten, Zaubersprüche, Gebete, gute Taten u.a.m.).

Die Sterblichkeit war hoch (Kindbettfieber, Kinderkrankheiten, Seuchen, Kriege). Bis ins 18. Jahrhundert gab es keinen geschützten medizinischen Berufsstand. Auf den Dörfern waren meist ältere Frauen die Trägerin von Heilkunde und Geburtshilfe. Die Arztpraxis war bis in die frühe Neuzeit noch nicht verbreitet, der Arzt wurde in das Haus zum Krankenbett. Hier traf er die ganze Familie und Nachbarschaft an, denen er über seine ärztliche Kunst Auskunft geben musste. Nur die Reichen hatten Leibärzte, die ständig in ihrer Umgebung waren. Bei schweren Erkrankungen zogen diese den Rat ihrer Kollegen hinzu. Viele Ärzte zogen auf Jahrmärkten durch das Land (z.B. Johann Eisenbart gest. 1727). Die Ferndiagnose (z.B. über Urinschau) war verbreitet.

Die Berufsgruppe der Heiler war breit: Bader, Barbiere, Ärzte, Wundertäter, Priester, Hexer und Hexen, Scharlatane. Eine große Rolle spielte das Geld. Wer arm war musste sich selbst helfen oder war auf die Dorfgemeinschaft angewiesen. Von Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie wird berichtet, dass er Kranke nach Hause schickte, wenn sie nicht zahlen konnten.

Die meist am Stadtrand eingerichteten Spitäler in den Städten (von christlichen Orden, Bruderschaften, Städten eingerichtet und getragen) waren mehr Orte zum Sterben als zur Heilung und standen im wesentlichen nur den Stadtbewohnern zur Verfügung. Während der Reformation gründete der Hessische Landgraf Philipp die "Hohen Hospitäler", um die Armen - und Krankenpflege auch für die Landbevölkerung zugänglich zu machen. So wurde das ehemalige Zisterzienserkloster Haina zum Hospital für alte, schwerkranke und gebrechliche Männer eingerichtet.

Carl Fries, 1852 - 1896 katholischer Pfarrer in Bendorf, berichtet in seiner Chronik der Stadt Bendorf über das alte Hospital in Bendorf und seine finanzielle Ausstattung im 18. Jahrhundert. Hier zeichnet sich schon die Wende im gesamten Gesundheitswesen ab, die im 19. Jahrhundert zu einer grundsätzlichen Veränderung bei den Spitälern, Heilern und Patienten führt.
(s. INTERNET - Lexikon der Wiener Zeitung "Zur Geschichte der Beziehung zwischen Arzt und Patientvon Barbara Altmann;



Vom Irren zum Psychiatriepatienten - der lange Weg der Psychiatrie:

Der römische Autor Celsus im 1. Jahrhundert beschreibt verschiedene Methoden im Umgang mit verwirrten Menschen, z.B. Lüge, Schmerz, Schrecken, Ablenkung und Eingehen. Vor ihm sprach man in der Sprache der aristotelischen Philosophie von der "materia peccans" (d.h. die Folgen der Sünde), die die vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle verunreinigten. In der Praxis hat sich wohl bis in die Neuzeit nichts geändert. Geisteskranke wurden in Massenkerkern eingesperrt oder getötet. Die humanere Methode war die lebenslange Einschließung in Klöster. Wer aus den Normen der Gesellschaft heraus fiel, wurde ausgegrenzt. Diese Klassifizierung wurde ohne Differenzierung auf Bettler, Landstreicher, Zigeuner, sozial Entwurzelte, Kriminelle, politische Abweichler, Ketzer, heilkundige Frauen, Prostituierte, Geschlechtskranke, Idioten, Verhaltensauffällige und Krüppel angewandt. Geisteskrankheiten galten als Strafe Gottes oder als Beeinflussung durch dunkle Mächte. Deshalb spielten im christlichen Mittelalter Exorzismen (Austreibung böser Geister, Teufelsaustreibung), Heiligenverehrung (Schutzpatrone), Reliquien (heilige Gegenstände), Gebete, Messen und Wallfahrten eine bedeutende Rolle, wenn ein Familienangehöriger erkrankte.

Aber bereits im Mittelalter wurde in Frankreich und Deutschland mit dem Bau von Domspitälern begonnen, in denen neben Armen und anderweitig Hilfsbedürftigen auch Geisteskranke aufgenommen wurden. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des kirchlichen Versorgungssystems war die Tätigkeit einiger Ordensgemeinschaften (Alexianer im heutigen Nordrhein-Westfalen, "Barmherzige Brüder" in Polen, Italien, Österreich und Bayern). Klösterliche Werte wie Gehorsam, Armut und Keuschheit wurden in diesen Häusern zu Prinzipien des Umgangs mit den Patienten - Arbeit, Einsamkeit und Gebet zu zentralen Elementen der Therapie.

Im späten Mittelalter entwickelten sich in den freien Reichsstädten weltliche Formen der Irrenfürsorge (Bürgerhospitäler), in denen neben Armen und Alten auch "harmlose Irre" aufgenommen wurden. Unruhige und aggressive Kranke wurden allerdings in die Stadttore gesperrt oder vor die Stadt in eigens dafür aufgestellte Holzkisten verbracht. Durch das Verschwinden der Lepra und das Ausbleiben von Pestepedemien konnten psychisch Kranke seit dem 16.-17. Jahrhundert in Lepra- und Pesthäusern untergebracht werden. Im katholischen Würzburg gründete Julius Echter von Mespelbrunn 1579 das nach ihm benannte Juliusspital, das für Arme und Kranke offen stand, auch wenn sie keine Bürger der Stadt Würzburg waren. Seit 1589 wurden dort auch Geisteskranke betreut.

Aufgrund von Absolutismus und Aufklärung entstand in Frankreich zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein gegliedertes Versorgungssystem. Akut Kranke wurden zu einer mehrwöchige Behandlung in das "Hôtel-Dieu" verbracht. Wer nicht gesund wurde, wechselte in das "Hôpital général", bestehend aus dem "Hôpital de Bicètre" für Männer und dem "Hôpital de la Salpétrière" für Frauen. Beide Häuser beherbergten große Abteilungen für psychisch Kranke. In Deutschland entstanden in Abwandlung dieses Vorbilds Zucht- und Tollhäuser. Wer allerdings im "Hôpital général" ankam, hatte kaum eine Chance, wieder lebend herauszukommen. Gewalt gegen Patienten oder unter den Patienten war an der Tagesordnung. Die unruhigen und gefährlichen Patienten wurden in Ketten gelegt und geprügelt.

Mit Beginn der Industrialisierung, Ende des 18. Jahrhunderts, entstand eine vermehrte Nachfrage nach Arbeitskräften. Dazu kamen Landflucht, Frauen- und Kinderarbeit sowie die Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten. Deshalb musste sich zunehmend der Staat um Geisteskranke kümmern. Alte leerstehende Klöster und Schlösser wurden zu Irrenhäusern umgestaltet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärfte sich die Problematik der überfüllten Irrenhäuser. Gegen 1900 waren Großanstalten mit 1000 Patienten und mehr die Regel. Doch die Masse der "ruhigen" Geisteskranken wurden in den Familien versteckt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts begann sich das Bewusstsein staatlicher Fürsorgepflicht zu entwickeln. Bis um 1900 hatten die Irrenärzte in den überfüllten Anstalten jedoch nichts in der Hand, um ihre Patienten zu therapieren. Wegschließen, Unterbringung in Massensälen, Zwangsjacke, Ketten, Fesseln, Gummizelle, Dunkelzelle, Wasser- und Elektroschocks, Sturzbäder mit kaltem Wasser, Zwangsstehen, Drehstühle, Schläge mit Ruten und Peitschen, Nahrungsentzug, Schlafmittel, Einreibung der Kopfhaut mit ätzenden Flüssigkeiten und Verwahrlosung waren gängige Methoden.

Die Art, wie Geisteskrankheiten betrachtet und Patienten behandelt wurden, änderte sich nur sehr zögerlich. Im zaristischen Russland war es im 18. Jahrhundert der Russlanddeutsche Müller, der als Erster vorschlug, die Geisteskranken in verschiedene Kategorien einzuteilen: die Tobsüchtigen in das Erdgeschoss, die Melancholiker und Mondsüchtigen in den ersten Stock und die Epileptiker in den zweiten Stock.

Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert brachte erste Bemühungen um menschenwürdige Behandlung psychisch Kranker mit sich. Bedeutsam für die Entwicklung der psychosozialen Versorgung war der neue therapeutische Optimismus. Die Wurzeln dieses Umdenkens liegen vor allem in England. Der Quäker William Tuke (1732-1822) gründete 1794 in York ein privates "madhouse", dem er den programmatischen Namen "The Retreat" gab. Die heilsame Einsamkeit in einer idyllischen Landschaft bot Schutz vor der Welt und vor der aus den Fugen geratenen Natur, die sich in der psychischen Krankheit äußerte. Offenbar ist es im "Retreat" gelungen, auf Prügel, Ketten und Zwangsjacken zu verzichten. Besucher waren von der freundlichen Atmosphäre beeindruckt. Gerade auch deshalb beeinflusste das Ideal der heilsamen ländlichen Einsamkeit die Zielvorstellungen der Reformpsychiater des 19. Jahrhunderts nachhaltig.

Wilhelm Griesinger (1817 - 1868) war einer der ersten deutschen Psychiater, die sich erfolgreich für die gewaltfreie Behandlung psychisch Kranker einsetzten. 1861 hielt sich Griesinger in England auf und lernte dort die Behandlung ohne Zwangsmittel kennen. Eine größere Anzahl von Psychiatern schloss sich nach einem Bericht Griesingers dessen Forderung nach Einführung der zwangfreien Behandlung an. Griesinger selbst begann in Zürich und 1865 nach seiner Berufung nach Berlin mit der neuen Methode, andere Kliniken folgten. Griesinger forderte zusätzlich die Errichtung von "Stadt-Asylen" (Rössler 1992) zur kurzfristigen wohnortnahen stationären Behandlung. Nur unruhige und gefährliche Patienten sollten weiterhin in Pflegeanstalten auf dem Land versorgt werden.

Nach den Vorstellungen Griesingers entstanden in den folgenden Jahren an vielen Orten neue Stadtasyle, fast immer in Form von Universitätskliniken (z.B. Heidelberg 1878, Freiburg 1887). An diesen Einrichtungen und an den bereits bestehenden Kliniken wurden dann auch wieder Studenten unterrichtet. Die Ausbildung der Ärzte ging teilweise wieder in die Hände der Universitäten über. Die Universitätskliniken waren natürlich nicht in der Lage, die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung allein sicherzustellen. Bevölkerungswachstum und Verstädterung erforderten immer höhere Behandlungskapazitäten. Überall wurden neue Anstalten eingerichtet und gebaut. Gesucht wurden verlassene Klöster. Bei Neubauten wurde der Pavillon - Stil bevorzugt. Malerisch in einem Park verteilte Villen, in denen die Patienten teilweise ausgesprochen komfortabel untergebracht waren. Der Name dieser Einrichtungen "Heilanstalten" sollte den Heilanspruch nach außen hin verdeutlichen. Mit der Veränderung der Blickrichtung änderten sich sowohl die therapeutischen Methoden wie die Anforderungen an das Pflegepersonal. Allerdings kam diese Humanisierung der psychiatrischen Medizin nur einer kleinen Schicht von Vermögenden zu Gute.
(s. INTERNET -Bericht von Prof. Dr. H.J. Luderer: Zur Geschichte der psychiatrischen Behandlungsverfahren)



Das Sayner Asyl und die Methoden des Dr. Brosius

- inhaltliche Zusammenfassung seiner therapeutischen Selbstbeschreibung:

Die Baugeschichte:

Durch Schreiben v. 12. Juli 1856 erhält Brosius vom zuständigen "Königl. Ministerium der p.p. Medicinal - Angelegenheiten" in Berlin die Erlaubnis für eine psychiatrische Klinik. Er geht sofort an die Realisierung und baut seine erste Klinik im Zentrum von Bendorf (Hauptstraße, frühere Praxis Renzel).

Am 1. Juli 1857 ist die feierliche Eröffnung des "Asyles für Gehirn- und Nervenkranke"

Das Bendorfer "Asyl" heute

Die Nachfrage ist groß, bis zum Jahresende sind es bereits 11 Patienten. Deshalb werden 1860 - 62 zwei Neubauten erstellt und ein Assistenzarzt eingestellt. Nun denkt Brosius bereits an ein größeres Projekt. 1862 kauft er am Stadtrand von Sayn ein großes Grundstück und zieht im April 1863 mit seiner Familie in die "Villa Sayn", "angeblich um in Bendorf mehr Platz und Ruhe zu schaffen", in Wirklichkeit hat Brosius von Anfang an den Plan zu einer psychiatrischen Klinik, die seinem therapeutischen Konzept entspricht. Schon 1864 - 65 wird die Villa durch einen Anbau erweitert und durch zwei Neubauten zu einer kompletten Klinik ausgebaut. Brosius beschreibt die Gebäude und deren Ausstattung sehr konkret, woran deutlich wird, wie wichtig ihm die äußeren Bedingungen sind.

Die "Villa Sayn" ist ein zweistöckiger Bau. Brosius bewohnt mit seiner Familie 8 Räume und einen Salon im 1. Stock. Im 2. Stock sind 3 Krankenstuben - offensichtlich für Patienten, die ständig in der Nähe der Familie wohnen dürfen.

Im "Anbau der Villa", dem sog. Haupthaus sind Praxisräume, Gesellschaftsräume, Wohnungen für das Wachpersonal, Badekabine, Küche und Vorratsräume und 18 Krankenzimmer. Die Patienten sind nach Geschlechtern getrennt. Brosius betont: "Sämtliche Räume sind, entsprechend den Anforderungen und Bedürfnissen der höheren Stände, mehr oder weniger elegant eingerichtet". Wir müssen uns erinnern: Es gibt noch keine Sozialversicherung. Die Humanisierung der Psychiatrie beginnt bei den Menschen, die selbst oder durch ihre Familie begütert sind. Die Armen sind ganz auf die Familie angewiesen und werden meist unter primitivsten Verhältnissen eingeschlossen.

Der sog. "Seitenbau" ist als halboffene Anstalt für "Halbruhige" bestimmt: Wärterraum, Gesellschaftszimmer, 6 Krankenstuben und Badekabine.

Das dritte Gebäude ist der "Zellenbau", also die geschlossene Abteilung. Die beiden Zellen haben die Größe von gut 13 qm und werden von einem dahinter verlaufenden Gang beheizt und versorgt. Wie viele Patienten in den beiden Zellen untergebracht sind, gibt Brosius nicht an. Aber er nennt ausdrücklich, dass auch die Zellen beleuchtet und beheizt werden.

1866 / 67 wird ein weiteres Gebäude als Badehaus für Kurzzeitkuren errichtet. Brosius beschreibt die Einrichtung: "Das vor kurzem vollendete zweistöckige Nebengebäude 70' (Fuß) lang, 27' (Fuß) tief, in welchem sich paterre, außer Oeconomie - Räumen, ein Blumenzimmer mit daranstoßendem Badekabinet befinden, enthält im 2. Stocke 5 Krankenzimmer, die auf einen 9' (Fuß = ca 30 cm) breiten Corridor stoßen."

Geradezu ins Schwärmen kommt Brosius, wenn er das Umfeld beschreibt: "Haus und Garten gestatten die Aussicht auf die weite von Gebirgshöhen umgrenzte freundliche Landschaft", "eine wahrhaft entzückende Aussicht auf das Rheintal.....die eine der schönsten unserer Provinz ist", "ein Stück Gegend voll Anmut und Lieblichkeit".

Das Personal

Brosius versteht sich als Chefarzt und als Unternehmer. Für die medizinischen Aufgaben wird er von einem Assistenzarzt unterstützt. Seine Schwester ist Stationsleiterin für den Frauentrakt und für Küche, Hauswirtschaft, Waschküche und Dienstpläne zuständig. Die Pflegeleitung obliegt seinem Bruder, der den Titel "Inspector des Asyles" führt. Für die 25 Patienten sind als "Wartepersonal" 4 Wärter und 2 Wärterinnen tätig. Brosius nennt voller stolz den Pflegeschlüssel von 2,5. Außerdem gibt es noch eine Köchin mit zwei Dienstmädchen und einen Gärtner, der im Notfall auch als Wächter einspringt. Brosius betont eigens, dass er dem Familienbetrieb große Bedeutung zumisst: " Die Vortheile, welche an einem kleinen Asyls zusammen wirkende Geschwister seinen Bewohnern bringen können, sind für Jeden einleuchtend."

Die Grundsätze der Therapie:

"Bei der Behandlung seiner Kranken ging er von dem menschenfreundlichen, damals aber noch wenig Anklang findenden Grundgedanken aus, die äußeren Verhältnisse der Kranken möglichst denen der Gesunden, ihren Gewohnheiten entsprechend, gleichzustellen", so hatte ich zu Beginn dieses Beitrags zitiert. Brosius selbst nennt für seine Therapie drei fundamentale Prinzipien:
  • Ruhe: Für Brosius ist die wichtigste Bedingung für seine Therapie die "Negation der Verhältnisse", in heutiger Therapie würde man von einer "Wohlfühl - Atmosphäre" sprechen. Alles ist auf dieses Ziel ausgerichtet: eine Atmosphäre der Ruhe und Entspannung für die Patienten zu schaffen. Auch Einzelheiten sind Brosius wichtig: die Gliederung der Räume lässt den Lärm aus Küche und Waschküche nicht bis zu den Patientenräumen dringen, Zimmer und Flure sind durch Teppiche schallgedämpft, die Fenster lassen sich von Innen verdunkeln. Hier sieht Brosius auch die Funktion seiner Familie. Er will die oft schlimmen Erfahrungen der Patienten lindern, wenn nicht sogar heilen. Die Patienten sollen sich im besten Sinne des Wortes "zu Hause fühlen".

  • Liberale Diät: gemeint ist "gute Köchin und Küche". "Die Kranken müssen eine reichliche und gut zubereitete Kost erhalten; das beste Fleisch, Eier, möglichst viel frisches Gemüse; feines Brod, Wein, nahrhaftes Bier u.s.w." Wichtig ist für Brosius auch die Tischgemeinschaft. Eigens erwähnt er, dass auch Ärzte, der Verwaltungsleiter und anwesende Gesellschafterinnen mit den Patienten - soweit dies möglich ist - essen. Der Zimmerservice wird deshalb so organisiert, dass "alle Kranken, die es wünschen und können, mit uns am gemeinschaftlichen Tische speisen".

  • Frische Luft: Als letztes nennt Brosius "die frische und reine Luft". Für die Patienten, die keinen Ausgang nach außen haben können, sind die Zimmer mit besonderen "Ventilations -Oeffnungen"" versehen. Alle anderen Patienten sollen "mehr draußen, als in ihren Zimmern" sein"

Brosius weiß auch um den Faktor Zeit. Alle Heilungen brauchen Zeit. Und er bleibt immer realistisch, weiß er doch, dass die Pharmazie seiner Zeit kaum Medikamente anbietet, die zu einer Heilung führen. Brosius wendet die damals bekannten Medikamente (z.B. Opium, Bromkali, Chinin) zur Linderung von Symptomen wie Schmerzen oder Tobsuchtanfälle an, gesteht diesen aber für die Heilung nur geringe Bedeutung zu. An Zwangsmitteln erwähnt Brosius in schweren Fällen lediglich die Unterbringung in einer der Spezialzellen.

Mit konkreten Zahlen gibt Brosius am Schluss seiner Dokumentation Nachweis über erreichte Heilungserfolge: 1867 wurden 12 Patienten neu aufgenommen und neun entlassen. Von den neun Entlassenen erhalten 6 die Diagnose "unheilbar". Insgesamt sind in diesem Jahr 25 Patienten im Asyl, davon gelten nur 6 als heilbar. Brosius weiß, dass verfestigte Psychosen in der Regel nur eine Chance auf temporäre Verbesserung haben. Hier richtet sich der ärztliche Beistand auf "Erhaltung des Restes geistiger Fähigkeiten, der Beweglichkeit und Zufriedenheit des Kranken". Den zutiefst humanistische Ansatz seiner Therapie formuliert Brosius wie folgt: "Am weitesten kommt man durch liberale Koncessionen, durch konsequente Ruhe, Güte und Leidenschaftslosigkeit im Verkehr mit ihnen, durch Erhöhung des Comforts, behagliche Einrichtung ihrer Wohnung, eine tadellose Beköstigung, sorgsame Wartung, Gewähr und möglichst großer Freiheit und verschiedenerer Privilegien, die ihnen zeigen, dass man ihnen vertraut und es gut mit ihnen meint."

Brosius lehnt den ganzen Katalog der in der damaligen Psychiatrie üblichen Methoden der zwangsweisen Beeinflussung von außen wie Anschreien, Verbote und Strafen ab. Auch die "sog. psychische Ableitung durch Unterhaltung, Lectüre, Beschäftigung, Spiele, Musik, Zerstreuungen etc." hat für ihn nur Heilungsbedeutung bei Patienten mit geringer neurologischer Störung. Anders bei bestimmten unheilbaren Kranken, hier ist "die psychische Ableitung durch Beschäftigung und Zerstreuungen (...) sehr oft möglich und sehr oft wohltätig.". Den Begriff der Arbeitstherapie gebraucht Brosius noch nicht, aber sinnvolle Beschäftigung, auch zum Dienst für die Gemeinschaft, hat für ihn einen hohen Stellenwert.

Brosius äußert sich auch zu der Rückführung in die Familie. Gerade bei Geisteskranken muss jeder Fall einzeln beurteilt und behandelt werden und "das Leben in der Familie" kann durchaus besser sein als der Aufenthalt im Asyl. Brosius nennt folgende Fälle: "Der Eine verträgt sich nicht mit diesem oder jenem Genossen in der Anstalt, er findet in dem gemeinschaftlichen Leben mit vielen andern Kranken stets Anlässe zur Erregung, zum Streit und zur Unzufriedenheit, es gibt oft Störungen der Ruhe und Ordnung, oft Klagen und Anklagen, während er in die Familie versetzt, verträglich, ordentlich zufrieden und harmlos ist. Ein Anderer scheut und weigert sich in der Anstalt zu arbeiten, seine Ideen verbieten ihm, sich mit Anderen auf dieselbe Stufe zu stellen......in die Familie versetzt, arbeitet er mit Freude, wird gesprächig und heiter."

Ziemlich am Schluss gibt Brosius noch einmal eine Zusammenfassung seiner Therapie:
" Eine detaillierte Schilderung des Lebens der Kranken in meinem Asyle würde hier zu weit führen. Es beruht auf zwei Grundsätzen, erstens den Heilbaren, den frisch Erkrankten möglichst viel Ruhe, möglichst viel Schutz vor heftigen und nachteiligen Eindrücken, zweitens den Genesenden und Unheilbaren möglichst große Freiheit zu gewähren".

Zehn Jahre lebte und arbeitete Dr. Brosius mit seinem Team und seinen Patienten im Sayner Asyl. Sein Ruf wurde in ganz Europa bekannt. Dann fasst er zum dritten Mal den Plan zum Bau einer größeren und schöneren Klinik. Hierbei könnte auch eine Bedeutung gespielt haben, dass die Naturheilverfahren in der Psychiatrie an Bedeutung gewonnen haben. 1878 kaufte Brosius ein großes Grundstück am Eingang des Großbachtales in Bendorf, ließ die Waldanlagen des Ebhards - Berges aufforsten und begann mit dem Neubau einer Klinik, (später wurde daraus das "Hedwig Dransfeld- Haus"). Die ersten Patienten wurden im Jahre 1881 in die neue Anstalt, die den Namen "Waldesruhe" erhielt, aufgenommen.

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Aus der Broschüre Dr. Brosius   Aus der Broschüre Dr. Brosius
     

Inhaltsverzeichnis



Es folgt der Originaltext aus der Broschüre von Dr. Brosius:
"Asyl für Gehirn- und Nervenkranke"


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Geschichtliches.


Auf meine Eingabe an das Königl. Ministerium der p. p. Medizinal-Angelegenheiten vom 24. Mai 1856 wurde mir unter dem 12. Juli dess. J. die Concession zur Gründung eines Asyles für Gehirn- und Nervenkranke ertheilt. Während des Baues nahm ich zwei Geisteskranke in meiner Familien-Wohnung auf. Das Asyl wurde am 1. Juli 1857 eröffnet. Bis zum Schlusse des Jahres traten 11 Kranke ein. Die Frequenz der Anstalt stieg in den folgenden Jahren allmälig. Im Sommer 1860 wurde ein Neubau begonnen, während dessen vier unheilbare, ruhige Kranke vorläufig in Privatwohnungen in der Nähe des Asyles untergebracht wurden. Am 1. September 1860 trat der erste Hülfsarzt ein, Herr Dr. Kremer, dem in späteren Jahren die Herren D. D. Scheffer, Lissauer und Stüde folgten, welch' letzterer noch gegenwärtig bei uns ist.

Im Jahre 1862 entstand der dritte Neubau, die Zellen-Abtheilung.

Im April 1862 acquirirte ich die ¼ Stunde vom Asyle entfernte Villa Sayn, wohin zunächst, um in Bendorf mehr Platz und Ruhe zu schaffen, meine Familie übersiedelte.


2
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Seit Ende 1863 nehme ich in Sayn auch ruhige, für das Familien-Leben geeignete Kranke und Convalescenten aus dem Asyle auf. Im Sommer 1864 wurde das Haupthaus des Asyles in Bendorf durch zwei Flügel, und endlich im vorigen Jahre die Villa Sayn durch einen Neubau erweitert*).

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Lage und Einrichtung des Asyles

Bendorf-Sayn, welches eine zum Kreise Coblenz gehörende Bürgermeisterei bildet, liegt auf der rechten Rheinseite, am südwestlichen Abhänge des Westerwaldes. Es ist von Coblenz und Neuwied gleich weit, 1 Stunde pr. Wagen, entfernt, von der Dampfboot - Station Engers 20 resp. 30 Minuten. Im nächsten Jahre wird uns die rechtsrheinische Bahn noch bequemer mit dem Norden und Süden verbinden.



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*) Trotz der öfteren Vergrösserung des Hauses kann ich doch nur wenig Kranke mehr als in den ersten Jahren aufnehmen, da seit den letzten Jahren die Kranken des Asyles den höheren Ständen angehören, die mehr Raum beanspruchen. Dasselbe ist schon bei 25 Kranken besetzt. Jch habe daher aussei' meiner Villa auch noch Familien-Wohnungen in Bendorf und Sayn für Kranke disponibel.

Die hiesige Gegend zählt unstreitig zu den schönsten der Rheinlande; sie hat einen italienischen Character. Von Coblenz, dessen herrliche Umgebungen bekannt sind, führt die Strasse längs des Rheines, an Rebgeländen vorbei, durch Wiesen und Obstfluren, über Vallendar nach Bendorf, wo sie sich über Engers nach Neuwied und über Sayn durch das romantische Isenburger Thal nach dem Westerwalde verzweigt. Die Gebirgs-Abhänge zur Seite dieses Weges bieten die grossartig-sten und prächtigsten Aussichten auf das breite Rheinthal, den alten Angeris-Au , auf den vielfach sich schlängelnden Strom mit seinen Inseln, die jenseitigen Höhen der Eifel und des Hunsrückens und die am Strome und Gebirge liegenden Orte. Man überschaut von den Umgebungen Bendorf-Sayn's einen grossen Theil des unvergleichlichen Panorama von Coblenz, ein Stück Gegend voll Anmuth und Lieblichkeit.

Das Asyl Bendorf liegt am Ausgange des gleichnamigen Ortes nach Sayn zu, frei in einem Obst- und Blumengarten, der den Kranken zum Aufenthalte und auch zur Beschäftigung dient. Haus und Garten gestatten die Aussicht auf die weite von Gebirgshöhen umgrenzte freundliche Landschaft

Die Kranken-Anstalt besteht aus drei Gebäuden, dem zuerst erbauten und im Jahre 1864 seitlich erweiterten Haupthause, welches den grössten Theil des Bildes ausmacht, dem Seitenbau, dessen östliches Ende (Gartenhaus) auf der Vignette sichtbar ist, und dem, durch den Seitenbau vom Haupthause ganz getrennten, auf dem Bilde nicht sichtbaren Zellenbau.

Das zweistöckige, in den Flügeln einstöckige, 100 Fuss lange, 38 Fuss tiefe Haupthaus, für ruhige Kranke, enthält,


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ausser dem Entree- und Aufnahme-Zimmer, drei Gesellschaftssälen, den Wohnungen für das Beamten- und Wartepersonal, Vorraths-Räumen - 18 Krankenzimmer und ein Badekabinet. Im hochgewölbten Sousterrain befindet sich die Küche nebst Anhängseln, im ganzen 7 Räume.

Das Haus unterscheidet sich nicht von einem gewöhnlichen Privathause; man sieht ihm nicht an, dass Geistesgestörte darin wohnen. Es ist durchweg massiv gebaut, hell und luftig, mit 8 Fuss breiten Corridoren, welche, wie die meisten Zimmer und das Sousterrain durch Gas erleuchtet werden. Sämrntliche Eäume sind, entsprechend den Anforderungen und Bedürfnissen der höheren Stände, mehr weniger elegant eingerichtet und meublirt. Die linke Seite des Hauses ist die weibliche Abtheilung.

Der 114 Fuss lange einstöckige Seitenbau, für Halbruhige, im Schweizer Styl erbaut, enthält ein Gesellschaftszimmer, ein Badekabinet, ein besonderes Wärterzimmer und ausserdem 6 Krankenstuben. Die 11 Fuss hohen Räume stossen auf einen durch Hochlicht erhellten Corridor, von dem aus auch die Oefen geheizt werden, so dass er auch im Winter warm ist. Das östliche Ende des Seitenbau's wird durch das auf dem Bilde hervortretende zweistöckige Gartenhaus geschlossen.

Die Zellen-Abtheilung ist durch den Seitenbau von dem Haupthause und dem Anstaltsgarten gänzlich getrennt, von dem Seitenbau selbst durch einen 2 1/2' breiten überdachten Raum. Sie ist gleichfalls einstöckig, mit Zink gedeckt und enthält zwei Zellen. Diese sind 13' lang, 9 1/3' breit, 11' hoch und haben ihren Eingang von einem 18' langen, 11' breiten

Corridor, der auch den Kranken zum Aufenthalte dient und mit einem kleinen Hofe in Verbindung steht. Hinter den Zellen läuft ein 4 1/2' breiter, den Kranken nicht zugänglicher Corridor, von dem aus die Oefen geheizt und die Aborte geleert werden. Auch die Zellen-Abtheilung und ein Theil des Seitenbau's werden durch Gas beleuchtet.

Die im April 1863 acquirirte Villa Sayn ist ein zweistöckiger, sehr massiver Bau, 42 1/3' lang, 30 1/2' tief, mit geräumigem, gewölbten Sousterrain. Er enthält, ausser einem Gesellschaftssaal und 8 für meine Familie bestimmten Räumen, drei Krankenstuben im zweiten Stocke. Das vor Kurzem vollendete zweistöckige Nebengebäude 70' lang, 27' tief, in welchem sich parterre, ausser Oekonomie-Räumen, ein Blumenzimmer mit daranstossendem Badekabinet befinden, enthält im 2. Stocke 5 Krankenzimmer, die auf einen 9' breiten Corridor stossen.

Die Villa, gegenüber dem Schlosse und Parke Sayn, ist von einem ca. 4 Morgen grossen, theils in der Ebene, theils terrassenförmig am Abhänge des Friedrichsberges angelegten Obst- und Blumengarten umgeben, aus dem man, namentlich von der Terrasse des Gartenhauses, eine wahrhaft entzückende Aussicht auf das Rheinthal geniesst, die eine der schönsten unserer Provinz ist*).


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*) Ich darf die Acquisition dieses Landhauses als eine für das Asyl zu Bendorf sehr glückliche bezeichnen. Ich habe mich darüber anderswo (Allg. Mediz. Zeitung 1864, 13, Berlin. Klin. Wochenschr. 1866, 36. Allg. Zeitschr, f. Psychiatrie 1865, p. 443) genügend ausgesprochen. Es können jetzt ausserhalb der Anstalt 6-8 ruhige Kranke aufgenommen werden, die sich für das Familienleben - (Fortsetzung Seite 6 unten)

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Die inneren Einrichtungen der Villa Sayn entsprechen gleichfalls den Anforderungen Kranker aus den höheren Ständen.



Vorgesetzte Behörde des Asyles

ist die Königliche Regierung zu Coblenz. Sie hat das Recht der Revision der Kranken-Anstalt. Im ersten Monate jeden Jahres sind ihr statistische Nachrichten über das Asyl nach einem bestimmten Schema einzureichen. Die letzte Revision Seitens dieser Behörde hatte Statt am 31. Oktober.1863



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eignen, oder einer besonderen Controle nicht bedürfen, aber dennoch hier unter ärztlicher Aufsicht und Beobachtung stehen.

Da mir ausserdem, wie schon bemerkt, in Bendorf und Sayn noch mehrere Privat - Wohnungen zur Disposition stehen, so ist hiermit der Anfang zu einer Colonie gemacht, deren Centralpunkt und Grundlage das Asyl Bendorf ist, aus dem die Kranken in einzelne Familien versetzt, und in das sie, wenn nöthig, zurückversetzt werden können.


Anstalts -Personal.


Das Asyl steht unter meiner aerztlichen Direction und Oberleitung. Mir zur Seite fungirt der Assistenzarzt. Für die weiblichen Kranken ist meine Schwester seit dem Jahre 1860 thätig. Sie kontrolirt zugleich die Küche, die Wäsche und den Dienst der Wärterinnen. Als Inspector des Asyles ist mein Bruder angestellt. Die Vorteile, welche an einem kleinen Asyle zusammen wirkende Geschwister seinen Bewohnern bringen können, sind für Jeden einleuchtend.

Das Wartepersonal besteht augenblicklich bei 25 Kranken aus 4 Wärtern und 2 Wärterinnen, so dass unter Zurechnung der 4 Beamten auf 2 ½ Kranke 1 Gesunder kommt, ein vollständig genügendes Verhältniss, zumal bei der, wie wohl in andern Privat-Asylen, so auch in dem unsrigen, gewöhnlich grossen Zahl solcher unheilbarer Kranken, die einer besondern Wartung und Controle nicht bedürfen.

In der Küche ist eine Köchin mit zwei Dienstmädchen angestellt.

Für die Anstalts-Gärten und Felder in Bendorf und Sayn wird ein eigener Gärtner gesucht, der, wenn nöthig, auch Wärterdienste übernimmt.


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Curmittel.


Als das erste und vorzüglichste derselben gilt mir das Asyl selbst, als Negation der bisherigen Verhältnisse, in denen oder durch die das Individuum erkrankte, als ein fremder Ort, der dasselbe verschiedenen Noxen entzieht. - An die Stelle dieser treten dann positive wohlthätige Agentien.

Im Allgemeinen die beste Arznei für den frisch erkrankten, noch heilbaren Gehirnkranken ist Ruhe in jeder Beziehung. Die allezeit wohlthätige und nöthige Schonung findet ein krankes Gehirn nirgends besser, als in einem guten, namentlich in einem kleinen Asyle. Unter dieser Schonung verstehe ich nicht allein die Fernhaltung aller starken und grellen Sinneseindrücke, Kühe im einsamen, halbdunklen Zimmer, horizontale Lage, Bettliegen etc., sondern auch Vermeidung solcher psychischen Eindrücke, die das kranke Gehirn nur noch mehr verletzen.

Manchmal habe ich beobachtet, dass, wenn ein Kranker aus seinen bisherigen unruhigen Verhältnissen, aus der Freiheit, aus all' den ihm lästigen und widrigen, oder ihn weiter aufregenden Gesellschaften und Zerstreuungen, aus der Masse der Worte, der verderblichen Raisonnements, der Tröstungen, Ermunterungen, Aufforderungen, Correcturen etc. in die ruhige Anstalt trat, wo er ungestört, bei aller

Aufsicht, mehr sich selbst überlassen wurde, - dass er alsdann schon auf dem Wege zur Heilung war.

Die Einrichtungen meines Asyles entsprechen möglichst diesem Prinzipe der körperlichen und geistigen Ruhe.

Die Zellen - Abtheilung ist durch den Seitenbau, und dieser durch einen Theil des Gartens vom Haupthause, in welchem sich die ruhigen und der Ruhe bedürfenden Kranken befinden, gänzlich getrennt. Die Anzahl der Zimmer im Haupthause gestattet mir die richtige Placirung der einzelnen Kranken je nach ihrem Zustande. Küche und Waschküche sind in das Sousterrain verlegt, wodurch mancher Lärm von den Krankenzimmern fern gehalten wird. Die Corridore sind mit Läufern belegt. In den Zimmern der betr. Kranken liegen Teppiche, und sie können durch Binnenläden verdunkelt werden, da grelles Licht, ebenso wie starkes Geräusch, dem gereizten Gehirn nachtheilig ist.

Mit Rücksicht auf dieses, bei heilbaren, frischen Fällen nie zu verletzende und zunächst zu versuchende, Prinzip der Ruhe war auch die Uebersiedelung meiner Familie aus dem sich vergrössernden Asyle nach Sayn nothwendig, denn in der Familie liegen bekanntlich manche Quellen der Beunruhigung und Erregung*).

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*) Sollte ein Steigen der Krankenzahl abermals einen Neubau nöthig machen, so ist für diesen die Stelle des hoch gelegenen, gleichsam über allen Lärm erhabenen, Gartenhauses in Sayn ausersehen. Ein ruhigeres, anmuthigeres Plätzchen wüsste ich nicht zu finden. (Siehe die Vignette.)

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Gleich wohlthätig, wie die Ruhe, wirkt eine liberale Diät. Das Delirium, die Verwirrung, die Angst und Auf-regung der Gehirnkranken sind sehr häufig nur die Symptome fehlerhafter Blutmischung, der Blutarmuth, der Schwäche und Entkräftung des Organismus, an der nothwendig das Gehirn participirt. Daher gibt es kein gutes Asyl ohne gute Köchin und Küche. Die Kranken müssen eine reichliche und gut zubereitete Kost erhalten, das beste Fleisch, Eier, möglichst viel frisches Gemüse, feines Brod, Wein, nahrhaftes Bier usw.

Die Kranken haben in meinem Asyle täglich 5, auch 6 Mahlzeiten, je nach Bedürfniss. Es ist die Einrichtung getroffen, dass alle Kranken, die es wünschen und können, mit uns am gemeinschaftlichen Tische speisen, die Männer mit den Aerzten und dem Inspector, die Frauen mit ihrer Gesellschafterin; die Gemeinsamkeit, das Arrangement der Tafel, die Unterhaltung erhöhen die Esslust. Dagegen speisen alle, welche auf ihrem Zimmer bleiben, eine halbe Stunde früher, damit wir bei ihren Mahlzeiten zugegen sein, sie besuchen und uns überzeugen können, dass sie Alles gut und hinreichend bekommen.

Ein drittes Curmittel ist die frische reine Luft, welche allen Kranken in möglichst grosser Quantität zugeführt werden muss, dem Exaltirten, weil er durch seine Muskel -Actionen viel Sauerstoff consumirt, dem Deprimirten, weil er bei der Seltenheit und Oberflächlichkeit der Thoraxbewegungen zu wenig einsaugt, dem Entkräfteten, weil sie ihn nährt. Mit Recht wird daher in den Asylen auf eine gute Ventilation gesehen.

Das meinige, wie auch die Villa Sayn, liegen frei, dem atmosphärischen Strome von allen Seiten ausgesetzt, und die Salubrität der Luft in hiesiger Gegend ist seit lange anerkannt. Sie wird von den aus grossen Städten und Fabrikgegenden Kommenden wohlthätig empfunden. Die Einrichtung der Anstalts-Gebäude, die Lage der Zimmer an geräumigen Corridoren, besondere Ventilations-Oeffnungen in Verbindung mit der stündlich statthabenden ärztlichen Controle, sichern unsern Kranken die grosse Wohlthat der reinen, gesunden Luft. Natürlich sind die Kranken, deren Zustand es gestattet, mehr draussen, als in ihren Zimmern.

Ich kann versichern, dass allein unter dem Einflüsse der genannten drei Mittel, Ruhe, liberale Diät, frische Luft, fast alle von den hier geheilten Kranken genesen sind, allerdings die Zeit nicht zu vergessen, welche ja selbst unter ungünstigen äussern Verhältnissen Krankheiten heilen kann.

Medicamente. Man findet bei Geistesgestörten im Ganzen selten bestimmte Indikationen für Medicamente und bei der Minderzahl meiner Kranken sind pharmazeutische Mittel in Anwendung gekommen, die, wie Opium, Bromkali, Chinin usw. auf das leidende Organ, das Gehirn wirken sollen. Zufällige extracerebrale Störungen wurden natürlich mit entsprechenden Medicamenten behandelt.

Nur in sehr wenigen Fällen konnte ich die Besserung des psychischen Leidens, die meistens allmälig, nach Monaten, erfolgt, auf Rechnung der Arznei setzen. Was ich schon anderswo wiederholt bemerkte, bemerke ich auch hier, dass


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nämlich der Arzt eines Asyles, in welchem verschiedene Agenden auf den Kranken wirken, in einem Falle von Heilung, diese nicht etwa dem angewandten Arzneimittel allein zuschreiben darf. Hätten wir souveraine, rasch wirkende Mittel gegen psychische Gehirnleiden, so wären Heilanstalten fast überflüssig. Ihr Werth liegt nicht in der Hausapotheke, sondern in dem Complexe der verschiedenen Htilfsmittel, über welche man in Verhältnissen ausserhalb der Asyle im Allgemeinen nicht verfügt.

Das die wohlthätige Wirkung der Ruhe, der kräftigen Kost und frischen Luft am meisten unterstützende Medicament ist der Wein. Viele Kranken refüsiren pharmazeutische Mittel, trinken aber gern den Wein, der ihnen keine Arznei zu sein scheint, den wenige scheuen, an den viele gewöhnt sind, der den meisten gut schmeckt.

Man hat den Wein nicht zu fürchten. Bei kräftigeren Constitutionen, wo von Blutfülle und Congestionen die Rede ist, verordne ich Moselwein, bei schwächeren Rheinwein, Rothwein, Sherry, Capwein. Ein kräftiger Wein ist namentlich für Paralytiker unersetzlich.

Ein anderes Tonicum ist Bier. Es nährt und bringt gleichzeitig bei Vielen, Abends getrunken, Schlaf und macht Narcotica oft überflüssig.

Letztere sind häufig treffliche Palliativa, die indirect zur Heilung beitragen können. In Asylen kann man sie besser entbehren, als in der Privatpraxis, wo andere Hülfsmittel fehlen. In Uebereinstimmung mit den Aerzten grosser Asyle kann ich dem Opium oder Morphium keine Heil-

kraft zuschreiben. Lässt man irgend ein Medicament, Opium, Chinin, Friedrichshaller Wasser etc. Monate lang gebrauchen, so ist man wahrlich nicht berechtigt, die langsam erfolgende Genesung dem Gebrauche dieses Mittels beizumessen. In derselben Zeit genesen erfahrungsgemäss Tausende von Kranken ohne irgend eine Arznei, lediglich unter Beachtung der allgemeinen hygieinischen Grundsätze, Regulirung der Lebensweise und Diät, Abhaltung von Noxen etc. Und das ist eben in Asylen leichter möglich; darin besteht ihr therapeutischer Werth.

Derivantia. Ausser Ableitungen auf den Darmkanal durch gelinde Laxantia, namentlich Friedrichshaller Wasser, welches Morgens zu 1 - 2 Weinglässern voll getrunken, Magenkatarrhe beseitigt, den Appetit steigert, Obstructionen hebt etc., benutze ich in frischen Fällen geistiger Störung ausschliesslich die Ableitung auf die Haut durch warme Bäder. Sie führen oft augenscheinlich Beruhigung, Appetit und Schlaf herbei. Manchmal sah ich in einem prolongirten Bade den Kranken einschlafen, und andere, die vor dem Bade die Nahrung refüsirten, nahmen sie nach demselben; bei andern wurde die Verstimmung temporär verscheucht.

Kranke, die das Bad fürchten, die man mit Gewalt in dasselbe bringen muss, verschone ich damit. Die Aufregung durch den Zwang, die gewaltsamen Manipulationen, die Balgereien zwischen dem Kranken und den Wärtern bei der Entkleidung etc., wobei jener sich erhitzt und erschöpft, - man muss es nur selbst mit ansehen, - sind offenbar dem Kranken nachtheilig; sie widersprechen dem Prinzipe der


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Ruhe. Manchmal allerdings, wenn der Kranke sich einmal überzeugt hat, dass er baden muss, entschliesst er sich das zweite Mal leichter dazu, und dann setze ich das Mittel fort.

In älteren Fällen geistiger Störung, wenn die Schwermuth sich protrahirt, wenn nach Besserungen sich immer wieder Verschlimmerungen einstellen, wenn die Tobsucht sich zwar mässigt, aber die geistige Klarheit und Ruhe vollends zurückzukehren lange zögert, - habe ich das Haarseil im Nacken angewandt, nicht in der Absicht, durch den Schmerz zu deriviren, das abirrende Vorstellen auf einen fühlbaren Punkt zu concentriren, die krankhaften psychischen Gefühle durch den örtlichen Schmerz zu massigen, - sondern um durch die Eiterung in der Nähe des Gehirns die Rückbildung präsumtiver Läsionen anzuregen. Das Haarseil brachte wohl mal Besserung; gewöhnlich hatte es keinen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit. In Fällen mit schlechter Ernährung, bei Blässe und Abmagerung des Kranken habe ich schwächende Ableitungen vermieden. Hier ist die Besserung erst von der körperlichen Kräftigung abzuwarten.

Ich resümire. In der weit grösseren Mehrzahl der Psychosen erfolgt die Heilung, wenn überhaupt, unter Beachtung der allgemeinen hygieinischen Grundsätze, unter dem Einflüsse der Ruhe und Kräftigung des Organismus, bei Fernhaltung von Noxen. Besonderen pharmazeutischen Mitteln ist verhältnissmässig selten ein Fall von Heilung mit Sicherheit beizumessen.

Psychische Behandlung. Sie ist natürlich sehr verschieden nach der Eigenthümlichkeit des Falles, nach seinem Character und Stadium, nach der Bildung und dem Naturell des Individuums.

Mit der Versetzung des noch heilbaren, frischen Falles in ein ruhiges Asyl beginnt die richtige psychische Behandlung, deren Character es ist, möglichst wenig auf die Psyche des Kranken direct und niemals energisch einzuwirken. Das widerspricht dem Grundsatze der Schonung des Gehirns, dessen normale Function, wenn die anatomische Läsion überhaupt der Rückbildung fähig ist, sich von selbst wieder einstellt, wenn es nur in Ruhe versetzt, und jeder heftige Reiz abgehalten wird. Auch das zum Acusticus dringende Wort, welches die cerebrale Function, das Vorstellen anregt, ist unter Umständen ein sehr nachtheiliger Gehirnreiz. Soll man gar nicht mit dem Kranken sprechen, gar nicht psychisch auf ihn einwirken? Mancher wird allerdings ohne das hergestellt, und im Allgemeinen haben wir uns im Stadium der Entwicklung und der Höhe der Krankheit directer, entschiedener oder anhaltender psychischer Einwirkung zu enthalten. Im Nachlassstadium, in der Reconvalescenz ist sie selten mehr nöthig, bei unheilbaren Fällen kann sie eben die Heilung nicht erzwingen.

Das, was Manche unter psychischer Behandlung verstehen, die Bekämpfung der Wahnideen des Kranken durch Raisonnements und Argumente, durch Belehrung und Widerspruch, Anregung des Wollens durch Ermunterung und Aufforderung, Zurückdrängen der Triebe, durch Hindernisse, Verbote und Strafen usw., kurz jedes


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directe Einschreiten gegen die Person des Kranken und die Symptome des Gehirnleidens ist mindestens nutzlos, häufig nachtheilig. In manchen Fällen kann man eher auf die Ideen des Kranken eingehen, so, das man ihm nicht widerspricht, im Allgemeinen wohl koncedirt, seine Aeusserungen, Klagen etc. begreiflich findet, ihn tröstet, auf die Zukunft verweiset etc., ohne indessen die Richtigkeit der speciellen Ideen geradezu anzuerkennen und ohne Erklärungen abzugeben, die der Kranke als Bestätigung seiner Ideen aufnehmen könnte. Hier ist Seitens des Arztes eine genaue Kenntniss des konkreten Falles und Geschick erforderlich. Auch die sog. psychische Ableitung durch Unterhaltung, Lectüre, Beschäftigung, Spiele, Musik, Zerstreuungen etc. taugt gewöhnlich nicht im akuten Stadium der Krankheit und gelingt dann auch nicht einmal, da der Kranke für Vorstellungen ausserhalb der Sphäre seines Wahnes gar nicht oder nicht dauernd fähig ist. Gelinde Fälle von Schwermuth und Tobsucht machen jedoch wohl Ausnahmen.

In der grössten Mehrzahl der heilbaren Fälle ist in der ersten Zeit die psychische Behandlung mindestens überflüssig. Man versetze den Kranken in Ruhe, verpflege ihn gut und zeige ihm, das man es gut mit ihm meint, durch stete Aufmerksamkeit auf seine Bedürfnisse, durch Concessionen, die seine Behaglichkeit vermehren, durch theilnehmende Erkundigung nach seinem Befinden, durch milden tröstenden Zuspruch bei Klagen und Verzweiflung. Bei Erbitterung, Spott, Leidenschaftlichkeit des Kranken ist Schweigen und Ueberhören besser, als leidenschaftliche Erwiderung. Manche unheilbare Fälle wollen anders behandelt sein, uud hier muss

sich die psychische Einwirkung, die, da Heilung nicht mehr möglich, immer nur geringern Rücksichten dient, ganz nach der Spezialität des Falles und der Individualität des Kranken richten Aber auch hier erreicht man durch directe Bekämpfung der krankhaften Symptome oder gewaltsame Unterdrückung ihrer Aeusserung höchst selten Etwas, und das Erreichte ist fast nie von Dauer. Dagegen ist die psychische Ableitung durch Beschäftigung und Zerstreuungen hier sehr oft möglich und sehr oft wohlthätig.

Wenn im Stadium des Nachlasses der Krankheit und in der Reconvalescenz gelinde geistige Anregung, Arbeit und Zerstreuungen, vorsichtig angewandt, die Genesung beschleunigen, so führen sie in unheilbaren Fällen manchmal einen der Genesung ähnlichen Zustand herbei. Das Irresein schrumpft bedeutend ein, die Wahnideen werden nicht mehr geäussert, die Stimmung wird besser, das Verhalten natürlicher, der Kranke wird von dem abnormen Handeln und Verhalten entwöhnt. Leider ist mancher gar nicht, mancher nur allmälig an regelmässige Beschäftigung zu gewöhnen, während wieder andere grade durch ihre krankhaften Ideen und Stimmungen selbst zu angestrengter Thätigkeit veranlasst werden. Diesen Umstand kann man im Interesse des Kranken klug benutzen und verwerthen.

Bei Manchen auch wird durch Arbeit und Zerstreuungen der Verfall in Apathie und Blödsinn verzögert, und gewisse Fälle gestatten eine entschiedene Anregung und konsequente Führung zur Arbeit; leidenschaftslose, ruhige Strenge bis zu einem gewissen Grade ist mitunter die richtige Barmherzigkeit und wird bei Geduld und Konsequenz belohnt;


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Dank der Macht der auch bei Schwachsinnigen noch möglichen Gewohnheit, durch ein erheblich besseres körperliches Befinden und natürlicheres Verhalten des Kranken.

In der That, die Heilung frischer Psychosen ist weit leichter, als in verjährten Fällen die Erhaltung des Restes geistiger Fähigkeiten, der Beweglichkeit und Zufriedenheit des Kranken. Jene erfolgt so häufig ohne besondere persönliche Einwirkung der Aerzte und der Beamten der Anstalt, wenn diese nur passende Localitäten und eine gute Küche hat, wogegen grade manche unheilbare Fälle, wenn sie nicht in der Monotonie der Anstalt, unter der Masse der Kranken, rasch und immer weiter entarten sollen, die persönliche Einwirkung und oft Aufopferung der gesunden Bewohner des Asyles, ihre Gesellschaft und Unterhaltung, Theilnahme bei der Arbeit, Begleitung bei den verschiedenen Zerstreuungen usw. beanspruchen*).

Will man die Leistungen und Erfolge, den Werth eines Asyles beurtheilen, so hat man in der That nicht allein und zuerst die Fälle der Heilungen zu addiren, sondern auf die Unheilbaren, die Pfleglinge zu schauen. Freilich manche Pfleglinge sind stets heiter und überrall vergnügt, lenksam, willig, anhänglich; die gute Laune ist ein Zug ihres Characters, der sich oft in der Krankheit erhält, oder ein Symptom dieser. Solche Kranke machen dem Asyle keine Sorgen, sondern erleichtern sie. Anders ist es mit manchen an Verfolgungswahn,

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*) Auch aus diesem Grunde, nicht bloss wegen der Notwendigkeit der Aufsicht und Controle, müssen möglichst viele Geistesgesunde unter den Kranken sein, was leider in grossen Pflege - Anstalten nicht immer möglich ist.

an finstern Hallucinationen und widrigen Sensationen leidenden Kranken, mit verbissenen, unverträglichen, schlecht erzogenen, verwöhnten, eigenwilligen Individuen, mit hysterisch irren Weibern, mit misstrauischen, leicht verletzlichen Kranken, mit so Vielen, die widerrechtlich im Asyle detinirt zu sein glauben. Jeder Anstaltsarzt kennt die Inconvenienzen des Missvergnügtseins solcher Irren, die nicht zu beruhigen und zu befriedigen sind, mag man thun, was man wolle; an ihrem Character und ihrer Krankheit scheitern alle wohlgemeinten Bemühungen, und ihre Beruhigung ist oft erst die Folge der Zeit, der allmäligen Abstumpfung des Gemüths bei Veraltung des Gehirnleidens. Dennoch gelingt es, bei Einigen durch eine geeignete Behandlung, die sich nach der Individualität des Kranken zu richten hat, die Wirkung der Zeit zu beschleunigen und sie erheblich zu bessern.

Am weitesten kommt man durch liberale Concessionen, durch konsequente Ruhe, Güte und Leidenschaftlosigkeit im Verkehr mit ihnen, durch Erhöhung des Comforts, behagliche Einrichtung ihrer Wohnung, eine tadellose Beköstigung, sorgsame Wartung, Gewährung möglichst grosser Freiheit und verschiedener Privilegien, die ihnen zeigen, dass man ihnen vertraut und es gut mit ihnen meint.

Für viele unheilbare Geisteskranke ist, grade mit Rücksicht auf die nöthige geistige Anregung und Erhaltung der geistigen Regsamkeit und der Zufriedenheit, Freiheit und Familien-Leben eine grosse Wohlthat. Die Erfahrung hat auch mir gezeigt, dass manchen Gestörten ein grosses Maass von Freiheit gewährt werden kann,


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nicht nur ohne allen Nachtheil, sondern sogar mit grossen Vortheilen. Man hat in letzter Zeit öfter die Vorzüge der Colonie vor den geschlossenen Asylen hervorgehoben. Beide haben ihre Vorzüge. Abgesehen von den sich und Anderen gefährlichen, die öffentliche Ruhe störenden, oder indecenten Kranken, die für die Freiheit nicht fähig sind, die in geschlossenen Asylen leben müssen, eignen sich auch die meisten heilbaren, wenn auch ruhigen und harmlosen, Kranken weniger für die Freiheit, für das gesellschaftliche und familiäre Leben, weil grade in diesen Verhältnissen nothwendig eine Menge von Einwirkungen liegen, die dem Grundsätze der Ruhe und Schonung des Gehirns widersprechen, ein Grundsatz, dessen anhaltende Verletzung sich meistens rächt durch lange Verschleppung oder Unheilbarkeit des Leidens. Isolirung, Einsamkeit, Entfernung von Allem, was die Sinne reizt und das Vorstellen lebhaft erregt, äussere Ruhe und Monotonie, wenig oder auch gar nicht mit Bewegung wechselnd, Dunkelheit des Zimmers, horizontale Lage, Bettliegen sind eine Zeit lang für sehr viele frische oder auch ältere, zeitweise exacerbirende Gehirnerkrankungen, namentlich Melancholieen, entschieden das Beste. Diese Verhältnisse lassen sich aber nirgends besser herstellen, als in ruhigen, also vorzugsweise kleinen Asylen, und ihr Vorzug in dieser Richtung sichert ihre Existenz gegenüber den Colonieen und den freieren Verhältnissen des System familial.

Aber für grössere Freiheit, für die Colonieen und das familiäre Leben eignen sich sehr viele andere Kranke, weniger unter den Heilbaren, als den Unheilbaren, und diesen auch thatsächlich möglichst grosse Freiheit zu gewähren,

fordert nicht allein die Humanität, sondern auch die Klugheit, jene, weil manche von Denen, die für die Freiheit fähig, in dieser auch zufriedener und glücklicher sind, diese, weil durch Beschränkung der Freiheit Symptome unangenehmer und lästiger Art erzeugt werden. Der Eine, weil er sich beschränkt und kontrolirt sieht, verdammt sich zur Einsamkeit und Trägheit, in deren Gefolge andere, körperliche und psychische, Uebelstande auftreten; der Andere im Gegentheil sucht heimlich und durch unerlaubte Mittel die Freiheit; der Dritte macht Unfug, weil er in der Beschränkung nichts Besseres zu thun weiss; ein Vierter, erbittert und misstrauisch, rächt sich durch berechnete Anklagen, Aufhetzereien und Verläumdungen. Solche und andere künstlich, durch die unfreien Verhältnisse erzeugten Erscheinungen beweisen nicht, dass der Kranke für die Freiheit unfähig ist, und können nicht durch noch grössere Beschränkung verhütet werden, sondern weichen eben nur grösserer Freiheit. Ich habe die schönsten Erfolge von Gewährung dieser gesehen, und ich kann meinen Collegen empfehlen, nicht nur die Abschaffung instrumentaler Zwangsmittel, sondern auch die Gestattung grösserer Freiheit und verschiedener Privilegien innerhalb und ausserhalb der Anstalt zu versuchen. Freiheit verbessert den Character der Asyle, weil sie die Zufriedenheit, das Vertrauen, die Anhänglichkeit, die Folgsamkeit vieler Kranken erhöht, womit die Quelle verschiedener Uebelstande und trauriger Ereignisse verstopft wird.

Dass man den Kranken erst dann Freiheit und Concessionen gewähren kann, nachdem man sie kennen gelernt hat, versteht sich von selbst; Vorsicht ist immer geboten.


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Freilich auch trotz der Vorsicht kann man sich mal irren, und die Freiheit wird missbraucht, aber einzelne etwaige Missbräuche und beklagenswerte Inconvenienzen werden doch durch die allgemeinen Vortheile der Freiheit mehr als aufgewogen, und jeder ehrliche Anhänger des Beschränkungs-Systems wird zugeben, dass auch durch die strengste Controle Inconvenienzen nicht vermieden werden. Was mich betrifft, so habe ich weit mehr Unannehmlichkeiten mit Kranken erlebt, deren Freiheit beschränkt, als mit denen, welchen sie gewährt wurde, und ich glaube, dass die nun doch in allen Asylen begonnene und versuchte Abschaffung der instrumentalen Zwangsmittel der Anfang sein wird zu einem freieren System im Allgemeinen, jene Kranken natürlich abgerechnet, für welche Isolirung ein polizeiliches oder therapeutisches Gebot ist.

Zum freieren System gehört auch das Leben in der Familie. Seit Gründung meines Asyles habe ich mich überzeugt, dass es Kranke gibt, die recht gut, ohne alle Gefahr, zu ihrem eignen und zum Vortheil der Familie, in dieser leben können, während andere sich gar nicht dafür eignen. Das System familial kann nicht zum absoluten Prinzip erhoben werden, aber es ist eine Methode, die man versuchen kann, und mit deren Versuche es auch oft gelingt, gar selten in heilbaren, frischen Fällen, für die häufiger die Ruhe eines guten Asyles passt, desto häufiger in unheilbaren, chronischen Fällen, denen die, mit dem freieren gesellschaftlichen und familiären Leben nothwendig verbundene, grössere äussere Unruhe oft nicht mehr schädlich ist.

Ich habe mich ferner überzeugt, dass manche Kranke zufriedener in einer Familie, als im Asyle leben, und dass ihre Versetzung aus diesem in jene eine günstige Veränderung, eine Besserung, wenn auch nicht Heilung ihres Zustandes nach sich zieht. Der Eine verträgt sich nicht mit diesem oder jenem Genossen in der Anstalt, er findet in dem gemeinschaftlichen Leben mit vielen andern Kranken stets Anlässe zur Erregung, zum Streit und zur Unzufriedenheit, es gibt oft Störungen der Ruhe und Ordnung, oft Klagen und Anklagen, während er, in die Familie versetzt, verträglich, ordentlich, zufrieden und harmlos ist. Ein Anderer scheut und weigert sich in der Anstalt zu arbeiten, seine Ideen verbieten ihm, sich mit Andern auf dieselhe Stufe zu stellen, er ist schweigsam, isolirt sich oder stört durch sein abnormes Verhalten die Behaglichkeit der Andern; in die Familie versetzt, arbeitet er mit Freude, wird gesprächig und heiter. Ein Dritter sagt, er sei wider seinen Willen in's Asyl gebracht, er gehöre nicht dahin, er betrachtet dasselbe als ein Gefängniss, dem er zu entrinnen sucht. Seine Unzufriedenheit verschwindet mit der Versetzung in die Familie, die er als Anerkennung seiner geistigen Gesundheit betrachtet. Daraus folgt nicht nothwendig die Prätension, nun auch entlassen zu werden; denn einem solchen Kranken fehlt vielleicht die Sehnsucht nach der eignen Familie, oder bestimmte Ideen halten ihn von dieser zurück, oder er will nun grade durch seine Leistungen in der fremden Familie beweisen, dass er fähig ist, selbstständig zu leben, und seine geistige Schwäche lässt ihn diesen Beweis in konsequenter Ausdauer versuchen. Ich habe Fälle aus eigner Erfahrung vor mir.


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Die Gegner des System familial hätten sich wiederholt von der Möglichkeit und dem Vortheil desselben für gewisse Kranke bei mir überzeugen können*).

Aber meine Erfahrung lässt mich gleichzeitig, abgesehen von der schon ausgesprochenen Unmöglichkeit, jenes System sehr weit auszudehnen oder gar zu generalisiren, dem Vorurtheil entgegentreten, dass die Kranken, die in Familien leben, darum in diesen glücklicher leben, als in den Asylen. Das ist keineswegs bei Allen der Fall. Manche stumpfe, gleichgültige, interesselose Kranken leben überall eben glücklich oder unglücklich; manche, unter dem Einflüsse ihrer subjectiven Empfindungen, nehmen von der Aussenwelt wenig Notiz und zeigen daher hier wie dort dasselbe Verhalten, dieselbe Stimmung; manche, deren Zufriedenheit von der Befriedigung des Magens abhängt, die eine reichhaltige Küche wollen, sind überall gern, wo sie solche finden. Noch andere ziehen das Leben unter vielen Genossen vor, wo sie besser plaudern können, als in einer Familie, obgleich ihr Zustand sie nicht hindert, in dieser zu leben. Also das Familien-Leben schliesst nicht für alle Kranke, die dafür fähig sind, darum eine grössere Behaglichkeit ein.

Ich kenne Beispiele, wo die Kranken lieber im Asyle, als in der Familie lebten. Solche sind denen gegenüber zu stellen, welche, nach Versetzung aus der Anstalt in die Familie, über diesen Wechsel sich freuen. In Gheel kann man letztere genug finden. Aber man darf sich nicht durch sie bestechen und zu einem einseitigen Urtheil verleiten lassen.



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*) Hätte ich mich nicht seit vielen Jahren davon überzeugt, so würde ich nicht die. Villa Sayn, wo nun 6-8 Kranke in meiner Familie leben können, durch einen kostspieligen Neubau erweitert haben.

Ich habe in Gheel, in den Privatwohnungen, auch Kranke gefunden, die besser in einem guten Asyle aufgehoben gewesen wären. Es kommt auch darauf an, aus welchem Asyle und in welche Familie die Kranken versetzt werden. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Das sogenannte System familial ist nur eine Methode der Irren- Verpflegung, die man oft mit Vortheil benutzt. Und auch das zeigt sie uns, dass die Verhältnisse der geschlossenen Asyle selbst in der That viel freier werden können, als sie durchschnittlich noch sind. Und je grösser die Freiheit, natürlich bis zu gewissen Grenzen, je familiärer das Leben innerhalb der Asyle ist, desto grössere Behaglichkeit wird in sie einziehen. Zu strenge Controle und zu viele Beschränkung stört jedenfalls die Zufriedenheit der Kranken.

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Leben im Asyle.



Eine detaillirte Schilderung des Lebens der Kranken in meinem Asyle würde hier zu weit führen. Es beruht auf zwei Grundsätzen, erstens den Heilbaren, den frisch Erkrankten möglichst viele Ruhe, möglichst vielen Schutz vor heftigen und nachtheiligen Eindrücken, zweitens den Genesenden und Unheilbaren möglichst grosse Freiheit zu gewähren.


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Für die ersteren wirkt das Asyl Bendorf ganz allein. Nur einen heilbaren Fall habe ich seit Acquisition der Villa Sayn in meiner Familie aufgenommen; er wurde zwar geheilt, zeigte mir aber auch wieder, mit welchen Schwierigkeiten die Behandlung frischer Fälle in der Familie verknüpft ist. Sie war nicht möglich ohne anstaltsartige Massregeln und Einrichtungen, zeitweilige Isolirung auf einem geschlossenen Zimmer, strenge Aufsicht und sichern Verschluss der Thüren und Fenster etc., wie denn ja solche Einrichtungen den Familien in Gheel gesetzlich vorgeschrieben sind *).

Für die Genesenden und Unheilbaren wirkt das Asyl Bendorf mit der Villa Sayn gemeinschaftlich. Während sie in ersterem selbst möglichst frei und familiär leben, so dass manche sogar den Hausschlüssel haben, ist ihnen gleichzeitig der Besuch in Sayn und der Verkehr mit meiner Familie gestattet. Dann finden Versetzungen aus dem Asyle in die Villa statt, die jetzt, nach Erweiterung der letzteren, häufiger möglich sind. Auch können hier nun Kranke, welche sich nach ärztlichem Urtheile für die Freiheit und das Familienleben eignen, von vornherein aufgenommen werden, und sollte ihre Versetzung in ein Asyl nöthig werden, so wird diese durch die Nähe von Bendorf sehr erleichtert.







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*) 8. Allg. Zeitschr, für Psychiatrie 1865, p. 428-431.

Leistungen des Asyls.

Es werden im Asyle aufgenommen heilbare und unheilbare Gehirn- und Nervenkranke, ohne Unterschied der Form der psychischen Störung. Es wurden seit dem Bestehen des Asyles bis ultimo Juni 1867 aufgenommen 159*) Kranke. Die Bewegung und das Resultat der einzelnen Jahre ist durch folgende Tabelle ausgedrückt.

Jahr Aufnahmen Entlassungen Bestand
  heil-
-bar
un-
heilbar
Total ge-
heilt
un-
geheilt
Total heil-
bar
unheil-
bar
Total
1856 5 9 11 3 4 7 1 3 4
1858 5 5 10 1 6 7 2 5 7
1859 1 7 8 3 3 6 2 7 9
1860 5 10 15 - 6 6 7 11 18
1861 8 6 14 5 13 18 5 9 14
1862 10 7 17 6 8 14 8 9 17
1863 13 8 21 6 12 18 9 11 20
1864 7 8 15 6 11 17 4 14 18
1865 7 8 15 5 7 12 2 19 21
1866 10 11 21 4 16 20 3 19 21
              ultimo Juni 1867
1867 7 5 12 3 6 9 6 19 25
summa 78 81 159 42 92 134      

*) Im offiziellen Kranken-Journal sind 160 verzeichnet.Ich habe hier aber einen zweifelhaften Fall von Irrsinn, der schon nach kurzer Zeit wieder austrat, nicht mitgerechnet.


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Von den überhaupt heilbaren Kranken (78) wurden also 42, i.e. 54% geheilt, von der Gesammtzahl (159) 26 ½ %.

Die kürzeste Zeit der Heilung betrug 5 Wochen in einem Falle von Melancholie. Hier erfolgte nach 2 Monaten ein Rückfall, der abermals nach 2 Monaten geheilt wurde. Nach mehreren Jahren ein dritter Anfall von Irresein, in welchem der bejahrte Kranke zu Hause starb.

Ein zweiter Fall von Melancholie, bei einem jungen Manne, wurde in 6 Wochen geheilt, ohne Rückfall, ein drit-ter ebenso bei einem Mädchen.

Ausserdem habe ich noch 5 Fälle von Heilung nach 2, 2½, 2½ u. 3 Monaten. In allen übrigen Fällen blieben die Geheilten länger als 3 Monate in der Anstalt, bis zu 12, 15 u. 17 Monaten in den drei hartnäckigsten Fällen.

Im Ganzen verblieben die 42 Geheilte 258¼ Monate im Asyle, also durchschnittlich 6 1/7 Monate.

Die schnellsten Heilungen betrafen leichte Melancholien. In den Fällen von Manie und Melancholie mit Aufregung betrug die durchschnittliche Dauer des Aufenthalts im Asyle 7 ½ Monate.

Von den 42 Heilungen wurden mir 8 Rückfälle be-kannt, das sind 19%.

In dem Schema der jährlich der Königl. Regierung einzureichenden statistischen Nachrichten, auch sonst in An-staltsberichten, findet sich die Rubrik "gebessert". Ich habe sie hier fortgelassen.

Das Wort "Besserung" umfasst sehr verschiedene Zustände. Gewöhnlich, wenn ein längere Zeit in einem Asyle befindlicher Kranker gebessert entlassen wird, kann er als unheilbar gelten. Allerdings ist es schon ein grosses Resultat, wenn ein Unheilbarer wieder fähig wird, in seiner Familie und in der menschlichen Gesellschaft zu leben. Dieses Resultat ist aber seltener eine Leistung des Asyles, sondern häufiger die blosse Folge des natürlichen Verlaufes der Krankheit, die mit der Zeit an Energie verliert, deren Symptome sich mässigen, zum Theil verschwinden; der starre, unvertilgbare Rest ist ein solcher, dass der Kranke ausserhalb des Asyles leben kann. Aber andere gebesserte Kranke sind darum doch nicht, sondern weniger fähig, als früher, in ihrer Familie zu leben. Es kommt dabei auch vieles auf die Familie selbst an. Ferner überdauert manche Besserung nicht lange die Rückkehr des Kranken in seine Familie, und weder für erstere, noch für letztere ist ein besonderes Resultat erzielt. Die Besserungen sind oft auch nur Remissionen der Krankheit, denen, auch wenn der Kranke in der Anstalt geblieben, wieder schlimmere Zeiten von selbst gefolgt wären; es ist nicht schwer, periodisch Gestörte gebessert zu entlassen. Dennoch sind unter den Unheilbaren manche, deren Besserung als Verdienst des Asyles gelten kann, als Folge geeigneter psychischer Behandlung, eines weisen Vertrauens, unermüdlicher Geduld und Güte, oder entschiedener Festhaltung pädagogischer Grundsätze. Eben manche Unheilbare, gegenüber den Heilbaren, die öfter Isolirung und Ruhe verlangen, werden durch Gewährung von Freiheit und durch die Einwirkungen des Familienlebens bei passender Beschäftigung gebessert. Solcher Fälle zähle ich während des 10 jährigen Bestehens des Asyles unter den


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134 Entlassungen etwa 4 oder 5 neben einer grösseren Zahl, deren Besserung wohl dem naturgemässen Verlauf der Krankheit zuzuschreiben war.






Todes- und Unglücksfälle.

Unter den 134 aus dem Asyle Ausgeschiedenen befinden sich 14 Todte; dies sind circa 10 %. Von diesen 14 waren 10 Paralytiker; das erklärt die Mortalitäts - Chiffre. Die Paralyse ist bekanntlich unter den höherem Ständen modern, und so hat es mir nicht an diesen Todes-Candidaten gefehlt. Von den 159 im Ganzen aufgenommenen Kranken sind 24 Paralytiker, und im Jahre 1866 befanden sich allein unter den 21 Aufnahmen 6 Fälle von Paralyse. Von den 4 übrigen starben ein hydropischer alter Patient an Apoplexie, drei nach Nahrungs- Verweigerung an Pneumonie. Fälle von Mord und Selbstmord oder sonstige Gewaltthaten sind im Asyle während seines zehnjährigen Bestehens nicht vor-gekommen; in 7 Fällen von Neigung zum Selbstmord wurde dieser verhindert. Erst in diesem Jahre hatte ich, leider, einen Unglücksfall zu beklagen. Ein dem Anscheine nach sich bessernder Melancholiker, ein junger Mann, entwich am hellen Tage aus dem Garten der Anstalt, aus der Nähe des

ihn begleitenden Hülfsarztes, ohne dass bis jetzt, fast 8 Wochen nach dem Vorfalle, irgend eine Spur von ihm entdeckt wurde, trotz der sorgsamsten Recherchen. In anderen Fällen von Entweichung und Versuchen dazu ereignete sich nichts Unglückliches.




Desiderata.

"Warum," fragte mich ein Freund, "soll man durch Erwähnung solcher Unglücksfälle die Vorurtheile des Publicums gegen die Asyle vermehren?" Ich bin der Ansicht, dass grade das Verschweigen, die Verheimlichung von Unglücksfällen, das Vorurtheil und die Anklagen gegen Anstalten vermehrt. Wir sollen dem ärztlichen und nichtärztlichen Publicum gegenüber offen sein. Das ist in unserer schwierigen Stellung für uns und die Kranken das Beste. Auch die besten Asyle sind nicht vollkommen. Jedes hat seine permamenten Fehler oder temporäre Schwächen, die zu beklagen, aber bei menschlichen Einrichtungen nicht zu vermeiden sind. Und in den Anstaltsgebäuden wirken auch Menschen, also keine unfehlbaren Wesen und Heilige. Aber sicherlich würden die Nachtheile solcher Fehler und Schwächen von geringerer Bedeutung sein, wenn das Publicum sie nachsichtiger beurtheilte, wenn im Volke eine bessere Kenntniss


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des Irrseins Platz griffe. Wie sehr würde uns diese die Behandlung und Verpflegung der Irren, die Leitung der Asyle erleichtern, und wie gross würde der Nutzen für die Kranken sein! Popularisirung der Psychiatrie! Richtig, jedoch leichter gesagt, als ausgeführt! Aber unsere Collegen, die Hausärzte der Familien, aus denen wir Kranke haben, müssen wir zunächst bitten, dass sie jene instruiren über Alles, was den eingetretenen Krankheitsfall selbst, dann was die Aufgabe des Asyles und die etwa nöthigen besonderen Anordnungen und Maassregeln betrifft. Erforderlichen Falles sind wir ja bereit, ihnen mit unsern Aufklärungen an die Hand zu gehen.

In allen Asylen äussert sich der Wunsch, bessere Wärter zu besitzen. Ich theile ihn. Vorwürfe und Anklagen gegen eine Anstalt lassen sich oft auf die Qualität des Dienstpersonals zurückführen.

Dann haben wir von den Regierungen eine Revision und Verbesserung der Irren - Gesetze zu erwarten, sie bei ihnen zu beantragen. Sie ist nicht möglich ohne Zuziehung erfahrener Anstaltsärzte. Sie ist aber sehr zu wünschen für die Kranken und die Beamten der Asyle.

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Aufgrund starker Nachfrage gab Dr. Brosius im Jahre 1875 eine zweite, nur geringfügig geänderte, Auflage seiner Broschüre über die Asyle in Bendorf und Sayn heraus.


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